Seelische Wunden

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„Hattest du nicht versprochen, nicht aus meinem Leben zu verschwinden?", fragte ich meinen Gegenüber gefährlich leise, während ich ihn wütend anfunkelte. Als ich weitersprach, hob ich meine Stimme langsam: „Was hattest du nochmal gesagt? Du würdest mich nie so einfach gehen lassen? Tja, ich muss dich leider enttäuschen, aber im Moment bist du auf dem besten Weg dahin."

„Hör mir bitte zu.", sagte er ruhig. Ich konnte nicht fassen, dass er so widerlich ruhig bleiben konnte, während ich einen halben Tobsuchanfall bekam.

„Nein. Du hörst mir zu, Alexander Fairfax!", fauchte ich.

Wir standen etwa einen Meter voneinander entfernt in einer kleinen Gasse zwischen zwei Gebäuden. Langsam setzte die Dämmerung ein und das kleine Stückchen Himmel, das zu sehen war, färbte sich erst rosa und dann graublau. Vor ein paar Minuten hatten sich die Straßenlaternen angeschaltet und verströmten jetzt warmes, gelbes Licht.

„Ich mache ja wirklich viel Scheiß mit, aber jetzt reicht's! Du, mein sogenannter „bester Freund" – bei diesen Worten malte ich mit beiden Händen Anführungszeichen in Luft – verschwindest einfach, ohne etwas zu sagen, für vier Wochen von der Bildfläche und ich darf dann sehen, wo ich bleibe, oder was? Ich muss dich gar nicht mehr aus meinem Leben ausschließen, das hast du selbst schon getan. Du hast gar keinen Anteil mehr daran, du bist ja nie da."

Während meiner kleinen Rede war ich immer weiter auf ihn zugegangen bis ich direkt vor ihm stand und pikste ihn mit meinem Zeigefinger in die Brust.

„Hör mal. Ich wollte dich nicht verletzen.", murmelte er so leise, dass ich mir Mühe geben musste, um ihn überhaupt zu verstehen, während er auf seine Fußspitzen starrte, die heute in schwarzen Turnschuhen steckten.

„Du wolltest mich nicht verletzen?", fragte ich ungläubig mit hochgezogenen Augenbrauen. „Tut mir leid, mich enttäuschen zu müssen. Das hast du aber. Und das tust du seit Monaten."

Verdutzt wie er war, vergaß er ganz mit seiner Schuhspitze im Schotter zu scharren und sah mit seinen haselnussbraunen Augen in meine eisblauen. „Wie soll ich dich seit Monaten verletzen?", fragte er irritiert und strich sich die braunen Haare aus der Stirn. In diesem Moment wirkte er so verwirrt, so süß, dass es mir das Herz zerriss nicht zu ihm zu gehen und ihn zu küssen.

Nach drei Wochen Funkstille war ich so durch den Wind gewesen, dass ich mich gar nicht mehr hatte konzentrieren können. Meine beste Freundin hatte mich daraufhin beiseite genommen und wir hatten lange diskutiert, während sie versucht hatte, mir zu helfen und mich aufzubauen. Ich hatte meine Trauer und die Tränen in den hintersten Winkel meines Herzen verbannt, damit sie da bis in alle Ewigkeit verschimmeln konnten und entschlossen, mich nicht mehr verletzen zu lassen. Jedenfalls nicht von ihm.

Ich wusste, den Schlussstrich zu ziehen, würde mir das Herz brechen, aber ich sagte mir verzweifelt, dass es weniger und vor allem weniger lange wehtun als wenn Alex meine Wunden durch seine Taten und Worte immer wieder aufreißen würde. Ich redete mir ein, dass es mir besser gehen würde, wenn ich ihn erst vergessen hatte, auch wenn mir klar war, dass es bis dahin noch ein langer Weg sein würde.

„Naja, wie wär's damit:", schlug ich in leicht aggressivem Ton vor. „Erst verhältst du dich sehr süß und machst mir Hoffnungen, nur um dich dann von einem Tag auf den anderen fast komplett zurückzuziehen. Plötzlich hast du dich vor mir verschlossen. Ganz zu schweigen von der Episode mit Carina. Und davon, dass du dich wochenlang gar nicht meldest und ich mir extreme Sorgen mache, brauchen wir gar nicht zu reden." Ich starrte ihn herausfordernd an als wolle ich ihn fragen: Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?

Als hätte er meine stumme Aufforderung verstanden, mühte er sich ab, eine Antwort zu finden: „Erstens: Lass es dir Sorgen zu machen. Wenn mir etwas passiert wäre, hättest du es schon erfahren. Dann..."

Weiter kam er nicht, weil ich vorgetreten war und ihm eine Ohrfeige verpasst hatte. Das Klatschen meiner Handfläche auf seiner Haut hallte von den Wänden wieder.

Als ich die Hand senkte, färbte sich meine Handinnenfläche rot und fing an zu kribbeln und zu brennen, genauso wie es auch bei seiner Backe der Fall sein musste. Ich hatte offenbar so fest zugeschlagen, dass auf seiner Wange mein Handabdruck rot leuchtend prangte und seine Augen vor Schmerz zu tränen anfingen, als ich für eine Sekunde hineinstarrte um sicher zu gehen, dass meine Botschaft angekommen war.

Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und tat als würde ich meine Haare über die Schulter zurückwerfen, obwohl sie wie immer als langer, dicker Zopf über meiner Schulter lagen.

Langsam ging ich die Gasse entlang bis zur Straßenecke, wobei ich das Gefühl hatte, dass die Fassaden der Häuser immer weiter auf mich zu rückten. „Warte, Alvara!", rief Alex, der immer noch an der Stelle stand, an der ich ihn zurückgelassen hatte. Aber ich reagierte nicht. An der Biegung fing ich an zu laufen, bis ich um die Ecke auf der anderen Seite des Lagergebäudes bog.

Erst dann brach ich zusammen. Ich kauerte mich auf das Pflaster, presste meinen Rücken gegen die Backsteine und schlang die Arme um meine Knie. Ich senkte den Kopf gerade dann, als die erste Träne meine Wange hinunterlief.

Meine Wut und die damit einhergehende Zufriedenheit über den Schlag war verflogen und zurück blieb die Trauer und der Schmerz meiner seelischen Wunden, den auch die Tränen nicht wegspülen konnten.

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