Kapitel 11

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Sie rannte. Es war das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass sie flüchten musste. Den silbernen Armreif fest umschlossen, hechtete sie durch die Flure Richtung Ausgang. Ihre Handflächen schwitzen und sie hörte ihren Herzschlag in ihrem Kopf pochen. Die kühle Luft wehte ihr entgegen, als sie die Tür aufschwang, doch das hinderte sie nicht daran weiterzurennen. Die feinen Steine knirschten unter ihren Schuhsohlen. Sie wusste nicht einmal, wohin sie rannte. Sie lief durch Querstraßen und ließ dabei das Einkaufszentrum weit hinter sich. Sie wollte vor Erschöpfung in sich zusammensacken, doch das Adrenalin war ihr Treibstoff, der sie am Laufen hielt.

Sie hörte das Blut, was durch ihren Kopf strömte und spürte ihr Herz, wie es immer schneller gegen ihre Brust wummerte. Jess hatte es aufgegeben, sich den Weg einzuprägen den sie lief. Sie wusste weder wo sie war, noch wie sie wieder zum Einkaufszentrum kam. Sie wollte gerade um eine weitere Ecke biegen, als eine Hand auf ihrer Schulter sie ruckartig nach Hinten riss. "Was zur Hölle sollte das?" Die Stimme ihrer besten Freundin wurde von ihrem Herzschlag gedämpft. Sie drehte sich um und schaute Zoe direkt ins Gesicht. Ihre schwarz umrandeten Augen spiegelten eine Mischung aus Verwirrung und Wut. Hinter ihr kamen die anderen Jugendlichen angerannt, die sich alle in einem Halbkreis um sie versammelten. "Ich lebe, Zoe! Ist es nicht das was du wolltest? Ist es nicht dass, was ihr alle die ganze Zeit versucht?" Jess fing unwillkürlich an zu lachen. "Jahrelang habe ich gedacht, dass alles was ich jemals gespürt und gemacht habe, das Leben sei! Ich habe gedacht, ich sei am Ende des Horizontes angekommen! Doch dank euch ist mir wieder eingefallen, dass die Erde rund ist! Es gibt kein Ende hinterm Horizont! Es geht immer weiter! Meine letzten Jahre waren nur eine Illusion des Lebens, eine billige Kopie! Aber das hier - das ist echt! Du wolltest doch, dass ich glücklich bin. Und jetzt bin ich es."

Zoe faltete ihre Hände vor dem Gesicht zusammen und atmete tief durch. "Aber doch nicht so! Weißt du, in was für eine Lage du uns bringst?" Das Adrenalin wich langsam aus Jess' Adern. "Aber ihr seit doch schon öfters vor der Polizei geflüchtet? Ich habt doch bestimmt auch schon etwas geklaut." Nun mischte sich auch Sophie ein. "Kaugummi! Oder eine CD oder Kleidung, aber kein hundert Euro teuren Armreif!" Jess wurde mit einem Schlag auf den Boden der Realität geschmissen. "Aber ihr habt mir gesagt, ich soll es tun.", ihre Stimme wurde kleinlaut und Wasser sammelte sich in ihren Augenwinkeln. "Was habe ich nur getan?" Eine Träne löste sich und kullerte in einem feinen Rinnsal ihre Wange hinab. "Was habe ich getan?", flüsterte Jess erneut, wieder und wieder. "Ich habe alles kaputt gemacht!" Von einem Moment auf den anderen hatte sie ihre Wolke durchbrochen und war in ein tiefes Loch gefallen. "Ich habe alles kaputt gemacht!" Zoes zuvor versteifte Mine wurde weich und wich einem mitleidigen Ausdruck. "Ganz ruhig, J.", flüsterte sie in einem beruhigenden Tonfall und ging einen Schritt auf ihre Freundin zu. Sie schlung ihre Arme um ihren Oberkörper, während Jess in ihre Schulter schluchzte. "Wir kriegen das hin, okay?", murmelte Zoe in ihren Haaransatz. Jess nickte langsam und richtete sich wieder auf. "Und wie?" Sie wischte sich mit dem Handrücken über ihre feuchten Augen. "Wir bleiben einfach zusammen und verstecken uns bis wir sicher sind, dass sie nicht nach uns suchen.", mischte sich nun auch Miles ein. Jace hatte seitdem nichts mehr gesagt. Er hatte einfach nur am Rand der Gruppe gestanden und sie mit seinem ausdruckslosen Blick angestarrt. Dabei war das doch auch seine Schuld! Er hatte sie schließlich provoziert. Doch Jess musste sich eingestehen, dass sie den Schmuck geklaut hatte und nicht Jace. Sie war die Diebin und allein sie trug die Verantwortlung für ihr Handeln.

"Die Scheune!", schlug Sophie vor. "Wir können uns in der Scheune verstecken. Unter der Woche ist sie ungenutzt und am Wochenende sind wir wieder weg."

Jess war schnell nach Hause gegangen und hatte ihre Schlafsachen in einen Rucksack gestopft, der nun neben ihr von dem Stroh verschluckt wurde. Ihre Mutter war heute Abend noch mit ihren Kollegen etwas trinken, weshalb sie nicht bemerken würde dass Jess weg war. Morgen musste sie auch bis abends arbeiten, aber dann wäre Jess wieder zu Hause. Jace hatte gemeint, falls die Polizei überhaupt nach ihnen suchen würde, würden sie es schnell aufgeben. Für sie war es nur ein belangloser Jugendstreich, den die Versicherung einfach wieder begleichen konnte. Nichts was eine Großfahndung wert wäre.

Das hatte Jess erleichtert, auch wenn ihr schlechtes Gewissen ihr noch immer Magenkrämpfe bereitete.

Sie hatten eine Tüte Chips und ein paar Dosen Bier zwischen sich auf das Stroh gelegt. Jess hatte sich im Schneidersitz zwischen Zoe und Jace gesetzt und zupfte an den Halmen herum, die sie umgaben.

Es war fast wie auf den Übernachtungen, die sie damals immer mit ihrer Freundin Elena veranstaltet hatte. Nur ohne das Bier und die ständige Angst von der Polizei verfolgt worden zu sein. Damals hatten sie immer heimlich Süßigkeiten gegessen, Horrorfilme geschaut und bis in die Nacht geredet, weil sie nicht einschlafen konnten. Doch jetzt war das anders. Die Stimmung war gedrückt und außer das Rascheln der Chipsfolie durchbrach nichts das Schweigen. Jess spürte den Armreif in ihrer Hosentasche, der auf ihren Oberschenkel drückte. Sie schob ihre Finger durch den Jeansstoff bis sie den silbernenen Reifen zu greifen bekam. Zögerlich wog sie ihn zwischen den Händen ab und versuchte die Gewissensbisse zu unterdrücken. "Was machen wir damit?", fragte Jess und versuchte ihren Blick von dem funkelnden Silber zu lösen. Die anderen schauten zu ihr auf. Ihre Blicke wanderten zu Jess, hin zu dem Armreif den sie umklammerte und dann zueinander. Jace stand auf und lief zu Jess hinüber, die immer noch in sich zusammengesackt dasaß und den Armreif zwischen ihren Fingern wandern ließ. Er nahm ihn ihr aus der Hand und lief zu einem großen Heuberg in einer Ecke. Er war einige Meter hoch und die dichten Halme fügten sich aneinander, so dass es fast aussah wie ein goldschimmernder Wasserfall. Die anderen richteten sich ebenfalls auf und folgten ihm ans Ende der Scheune. Jace machte eine lockere Handbewegung und mit einem Klirren, was die Ruhe wie eine Messerklinge durchschnitt, zerbrach er es in zwei Teile und warf es in den Heuberg. Der Armreif wurde von dem Gold sofort verschluckt, sodass keine Spur zurückblieb. "Wer findet schon die Nadel im Heuhaufen?"

***

Dankeschön nebenbei an alle fürs Lesen, Voten und für die lieben Kommentare!

Wenn euch diese Geschichte gefällt, dann könntet ihr vielleicht auch meine anderen Storys mögen.:)

Wenn ihr wollt, könnt ihr ja mal reinlesen und mir eure Meinung dalassen.

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Ich zwinge euch zu nichts. :)

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