Kapitel 6

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Als Jess die Augenlider öffnete, erblickte sie die graue Wolkenschicht, die sich wie eine schützende Decke über die Stadt gelegt hatte. Der Boden auf dem sie lag war hart und unbequem. Ein unaufhörlicher Schmerz pochte in ihrem rechten Knöchel und sie musste die Kiefer aufeinander pressen um nicht laut aufzuschluchtzen. Was war geschehen? Ein Kopf schob sich in ihr Sichtfeld, doch sie konnte zunächst nur verschwommene Konturen erahnen, ehe sie Zoes von Strähnen umrahmtes Gesicht erkannte. Die helle Haut prägte eine sorgenvolle Miene. "Alles klar?" Jess vernahm die vertraute Stimme wie aus weiter Ferne. Sie richtete sich vorsichtig auf, wobei ein unaussprechlicher Schmerz ihren Körper durchfuhr der von ihrem Knöchel bis zu ihren Fingerspitzen reichte. Vor ihr lagen hohe Betongebäude, durchbrochen von engen Straßen und anschließenden Wohnblocks, die den Horizont der Stadt prägten. Hinter der Häuserlandschaft war inmitten der weitläufigen Felder eine kleine Stadt zu erkennen, unter dessen Fachwerkbauten Jess' vertrautes Heim stand. Die Erinnerungen der letzten Minuten überrollten sie. Sie sah sich selbst, wie sie in einer Art Trance auf die Dachkante zuraste und dann wie sie in der Luft schwebte, erfüllt von einem intensiven Gefühl, was sie nicht zuordnen konnte. Das Adrenalin pumpte noch immer durch ihre Adern, doch das bestimmte Gefühl verebbte langsam. Lebensfreude. Es war ein Moment in dem sie sich das erste Mal seit langer Zeit lebendig gefühlt hatte. Bei der Erinnerung an diesen unvergleichlichen Wimpernschlag, überkam sie so ein überwältigender Schwall von Emotionen, dass sie den Schmerz in ihrem Knöchel einen Moment lang vergaß. Jess versuchte sich vorsichtig auf die Beine zu stemmen, doch jede Bewegung machte sich in ihrem Knöchel bemerkbar. Als sie nach dem vierten Versuch aufrecht stand, musste sie sich auf die Schulter ihrer Freundin stemmen, um nicht einzuknicken. Die anderen hatte sich im Halbkreis um das verletzte Mädchen aufgestellt und durchbohrten sie nun mit ihren neugierigen Blicken. "Wie fühlst du dich?", fragte Sophie und betrachtete Jess prüfend. Sie hatte so ein Glitzern in den Augen, was ihr zuvor nicht aufgefallen war. Das war die kurzzeitige Auswirkung des Adrenalinstoßes. Es machte die Leute für einen Moment lebendig. Und das merkte man, denn als Jess den Blick über die Jugendlichen schweifen ließ, bemerkte die dieses lebensfreudige Glitzern auch bei den anderen, die nun viel glücklicher schienen, als zuvor. Selbst Jaces' furchteinflößende Miene war einem irren Leuchten gewichen. "Für einen Moment habe ich mich ganz anders gefühlt. Besser.", versuchte Jess ihre Gefühle in Worte zu fassen. Ein zufriedenes Lächeln huschte über Sophies rosige Lippen. "So fühlt es sich an lebendig zu sein. Du spürst das Adrenalin, was dich am leben hält, durch deine Adern pumpen. Die Welt um dich bleibt stehen, es zählt nur dieser eine Moment in dem du dich, wie auf Wolken fühlst - so frei und unabhängig von allem was da draußen ist. Ist es das Gefühl, was du empfunden hast?" Jess nickte. Ihr Knöchel pochte weiterhin im Takt ihres Herzschlags, der sich verlangsamte. Das Hochgefühl, was Jess zuvor gespürt hatte war purem Schmerz gewichen. "So fühlt es sich an lebendig zu sein. Deshalb machen wir das." Die letzten Worte hauchte Sophie mehr und die weichen Klänge wurden vom kühlen Wind davon getragen. "Und jetzt stell dir vor, du kannst dieses Gefühl immer und immer wieder empfinden.", sagte Miles und fuhr mit der Spitze seines Turnschuhes Muster in die feine Kiesschicht, die das Dach bedeckte. Jess versuchte die Emotionen dieses Momentes einzufangen, doch sie entwichen ihrer Erinnerung immer wieder. Gerade konnte sie nur sagen, dass dieses Gefühl zwar unglaublich war, doch der Schmerz ihres Knöchels im Moment überwiegte. Sie strich sich gedankenverloren über den Arm. Ein weiterer Schmerz durchzuckte ihren Körper. Jess zog geräuschvoll Luft durch die Zähne ein und der kalte Sauerstoff brannte in ihrer Kehle. Sie schaute auf ihre Finger an denen frisches Blut klebte. Als sie ihren Arm genauer betrachtete, entdeckte sie eine Schürfwunde an ihrem Ellenbogen aus der dunkelrotes Blut floss, was ihren Unterarm in schmalen Rinnsalen hinunterlief. Das hatte sie wegen ihres Knöchels nicht einmal bemerkt, doch nun brannte die offene Wunde und eine plötzliche Wut überkam sie. Sie war wütend auf die anderen, die sie hierzu überredet hatten; sie war wütend auf Zoe, weil sie nachdem Jess ihr die Seele geöffnet hatte, dieses Vertrauen ausgenutzt und alles ein paar fremden Jugendlichen erzählt hatte, die versuchten sich in ihr Leben einzumischen; und sie war sauer auf sich selbst, weil sie sich auch noch darauf eingelassen hatte. Zoe bemerkte die von Schmerz verzogene Miene ihrer Freundin. "Geht es dir gut?" Besorgnis schwang in ihrer Stimme. Ihr Blick fiel auf ihren Blutverschmierten Unterarm. Ein leises Fluchen entfuhr ihr und sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, womit sie vorsichtig das Blut um die Wunde abtupfte. Rote Flecken verfärbten das Weiß des Tuches. Jess entriss ihren Arm aus dem Griff ihrer Freundin,- welche verwirrt zunächst auf Jess' Arm und dann in Jess' Gesicht schaute,- und humpelte ein paar Schritte zurück. "Die Schürfwunde ich das mindestens Problem! Ich kann kaum laufen wegen eurer idiotischen Vorstellung des Lebens! Yolo!" Das letzte Wort spuckte sie verachtend aus. Das Adrenalin und das freie Gefühl war nun vollkommener Wut gewichen und sie wandte sich zum Gehen. "Warte, J!" Zoe stürzte mit einem Satz auf Jess zu und hielt sie am Saum ihres Oberteils fest. Sie wurde ruckartig zurück gerissen, wobei ihr Fuß abknickte und der Schmerz in ihrem Knöchel unerträglich wurde. Sie schrie kurz auf und Tränen schossen ihr in die Augen. Jess biss sich auf die Lippe, bis sie Eisen schmeckte und zwang sich tief durchzuatmen. "Tut mir leid!", sagte Zoe und kniete sich hin, um Jess' Knöchel genauer zu begutachten. Doch diese zog den Fuß schnell weg und humpelte zu einer Eisentür, die im Boden eingelassen war unter der Jess eine Leiter vermutete. "Jess!" Zoe richtete sich auf und wollte gerade ihrer Freundin nachlaufen, als Jace sie an der Schulter festhielt. Aller Glanz war aus seinen Augen gewichen. "Lass sie gehen! Ich habe doch gesagt, dass sie es nicht wert ist ein Teil dieser Gruppe zu sein." Jess hatte seine kalten Worte deutlich gehört und es bereitete ihr einenen Stich, wie einfach und gefühllos er  diese ausgesprochen hatte. Doch noch mehr tat es weh, dass Zoe nicht wiedersprach sondern Jace nur einen Moment lang empört anschaute und dann jedoch nachgab.

Jess kam nur langsam vorran und Zoe hätte sie leicht einholen können, doch sie stand wie alle anderen nur hilflos da und starrte der stolpernden Jess hinterher.

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