Der muffiger Geruch nach Staub und altem Holz stieg Jess in die Nase und ein Niesen entfuhr ihr. Sie ging weiter in den Raum hinein und das Stroh unter ihren Füßen raschelte bei jedem ihrer Schritte. Die Scheune war bis auf einige Werkzeuge, die in der Ecke standen, verblüffend leer. Zoe lief auf eine Berg von aufgetürmten Heu in der Ecke zu und ließ sich hineinfallen. Staub wurde aufgewirbelt und Jess musste ein weiteres Mal niesen. "Wieso hast du mich hier her gebracht?", fragte sie und ließ sich neben ihrer Freundin fallen. Der Geruch des Heus war angenehm und Jess fühlte sich zwischen den Halmen, die auf ihrer Haut pieksten, auf irgendeine Weise geborgen. "Ich hab gedacht, es würde dir hier gefallen."
"Das tut es. Aber wieso konnte das nicht bis zum Morgen warten?"
"Tagüber wird die Scheune oft für irgendwelche Feste genutzt. Das wäre zu riskant. Außerdem hört man es besonders nachts am Besten."
"Was?", fragte Jess und kratzte sich umständlich am Arm, wo die Halme sich in ihre Haut bohrten.
"Diese Ruhe", Zoes Stimme senkte sich und war nurnoch als leises Flüstern zu vernehmen.
Jess ließ die Hand sinken und lauschte einen Augenblick. Doch da war nichts, wonach sie hätte lauschen können. Kein Nachtgeräuscht drang durch die sperrige Wand aus Holz zu ihnen hinein. Es schien, als hätte die Welt für einen kurzen Moment den Atem angehalten. Niemand wagte es etwas zu sagen. Worte hätten diesen Moment nur beschmutzt. Zwischen ihnen lag nur die andächtige Ruhe, die niemand wagte zu zerstören. Deshalb schwiegen sie weiter. Es war kein unangenehmes Schweiges, was zwischen den Leuten bei einer peinlichen Verabredung entsteht, wenn sie sich plötzlich nichts mehr zu sagen hatten und verzweifelt nach einem Gesprächsthema suchten. Es war mehr ein Schweigen zwischen Menschen, die keine Worte brauchten, um den Moment vollkommen zu machen. Niemand wagte es sich zu rühren. Jess schaute an die morschen Deckenpanelen, die sich an der hohen Decke über ihr parallel erstreckten.
"Woran denkst du gerade?", fragte Zoe plötzlich in die Stille hinein und durchschnitt die Ruhe mit ihrer Stimme, wie mit einem Messer. Es war, als wäre eine Seifenblase geplatz, so schnell hatte sich die Anspannung in der Luft gelöst. "An garnichts.", sagte sie nach kurzem Überlegen. "Und du?" Zoe richtete sich etwas auf und schaute ihre Freundin an. "An garnichts? Das geht nicht. Jeder denkt an irgendetwas.", sagte sie in beinahe empörtem Tonfall ihre Frage ignorierend. "Naja, ich versuche zumindest an nichts zu denken. Ich habe gelernt, dass wenn ich zu viel nachdenke, mich alles nur zu erdrücken scheint, meine Gedanken umherwirbeln und dann wird mir nur schlecht." Zoe lachte ein wenig. Aber es war kein herzhaftes Lachen, mehr so ein verlegendes Lachen, was man in unangenehmen Situationen anbringt, wenn man in einem Gespräch ist und nicht weiß, was man sagen soll. "Und worüber denkst du nach, bevor dir schlecht wird?", hackte Zoe nach kurzem Zögern nach. "Du bist echt neugierig!" Wieder ein verlegendes Lachen. "Und du echt verschlossen." Jess schüttelte empört den Kopf. "Du weißt alles über mich. Du weißt was ich gestern zum Abendessen hatte, was meine Lieblingsfarbe ist und wie mein erster Goldfisch hieß." "Und wieso weiß ich dann nicht das wichtigste über dich?" "Weil ich Angst habe." Zoe setzte sich nun vollkommen aufrecht hin. "Wovor?" Ihre Stimme war gedämpft. "Vor Allem. Ich habe Angst vor dieser Welt. Ich habe Angst vor dem Vergangenen und von dem was noch kommen wird. Ich habe Angst alleine zu sein. Ich Angst einsam zu sein. Ich habe Angst vor der Gesellschaft. Ich habe Angst vor mir selber. Ich habe Angst vorm Leben. Und ich habe Angst, dass du mich jetzt für total verrückt hältst.", platze es plötzlich aus Jess heraus. Schweigen durchzog den Raum. "Warum hast du solch eine Angst vor dem Leben?" Jess schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Das Leben ist so ein sinnloser Schrei, der im Nichts verhallt. Das Leben ist für mich nur das Warten auf den Tod und alles was ich Tag für Tag erlebe ist nur ein Zeitvertreib. Ich sehe einfach keinen Sinn in dem was ich tue und das einzige was ich am Ende habe ist der Tod. Warum das Leben also mit Existieren verschwenden, wenn es doch sowieso im Nichts verendet? Ich weiß nicht mal, wieso ich all das denke und fühle, aber irgendwie ist es so. Wahrscheinlich bin ich einfach realistisch." Jess schluckte die aufkommende Reue herunter. Es war das erste Mal, dass sie diese Gedanken ausgesprochen hatte. "Und woran denkst du?" Zoe wendete ihren Blick einen Moment ab. "Ich denke daran, wie gerne ich jetzt Pizza hätte." Sie sagte die Worte in so einem ernsten Tonfall, und erst als sie anfing zu grinsen begann auch Jess zu lachen. Als sie wieder zu Atem kamen, verfinsterte sich Zoes Miene auf einen Schlag. "Aber was du gerade gesagt hast...ist das wahr?" Jess zuckte mit den Schultern. Zoe schüttelte den Kopf und zupfte an einem Strohhalm herum. "Aber wieso?" Jess zuckte erneut mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Es ist, wie als würde ich durch einen grauen Schleier schauen. Nichts was ich mache hat einen Sinn und überall, wo ich hinblicke sehe ich Schmerz. Ich habe hier nichts. Das Einzige, was mich hierbehält bist du, meine Mom und meine unbeschreibliche Angst." Mit jedem Wort fühlte sie mehr und mehr Reue. Wieso sagte sie all das? Es schien, als hätte sie keinen Einfluss darauf, als würden die Worte von alleine den Weg über ihre Lippen finden.
"Ich weiß nicht mal wovor ich wirklich Angst habe. Denn ich habe sowohl Angst vorm Tod, als auch vom Leben. Und so befinde ich mich Tag für Tag in meinem eigenen kleinen Paralleluniversum und lasse jede Sekunde an mir vorbeiziehen, in der Hoffnung abends in mein Bett fallen zu können, damit das ganze am nächsten Tag von Vorne beginnen kann. Was ist das für ein Leben?" Eine Träne rann Jess über die Wange. Sie hörte Zoes tiefe Atemzüge, die durch das Stroh gedämpft wurden. "Das Leben ist so schön, Jess.", sie griff über das Stroh nach der Hand ihrer Freundin und schaute ihr in die Augen. "Du musst es nur zulassen." Jess lächelte dankbar. Auch wenn Zoe ihr nicht helfen konnte, gab ihre Anwesenheit ihr dennoch auf irgendeine Weise Kraft. Sie würde ihr nicht auf Dauer helfen können, doch für diesen Moment war es genug. Jess ließ sich tiefer in das Stroh sinken, bis sie beinahe komplett von ihm bedeckt war. Plötzliche Müdigkeit überkam sie und ehe sie es sich versah, war sie eingeschlafen. Das Letzte, was sie hörte war Zoes leise Stimme, die "Gute Nacht! Und bald wirst du das Leben leben, wie du es verdient hast.", flüsterte. Sie wusste nicht, wie ihre Freundin das meinte, doch sie war zu müde, um darüber weiter nachzudenken.
DU LIEST GERADE
Alive - Wie viel ist das Leben wert?
Teen Fiction"Wir haben nichts gespürt. Keine Freude. Keine Trauer. Da war nur diese Leere. Wir haben keinen Sinn mehr im Leben gehabt. Haben jahrelang nur noch existiert. Wir dachten, dass das was wir taten "leben" sei, aber wir haben uns belogen. Die Gesellsch...