Die anderen waren bereits auf dem Stroh eingeschlafen, während Jess mit offenen Augen dalag und an die Holzpanelen über ihr starrte. Die Grillen zirpten auf den Feldern vor der Scheune und sie konnte die Holzwürmer hören, die sich durch das Holz kauten. Dunkelheit verschluckte den Raum und man konnte nur schemenhaft die Konturen der anderen Jugendlichen wahrnehmen, die neben ihr lagen. Jess wälzte sich zur Seite, wobei das Stroh aufgewirbelt wurde und ihr ein unterdrücktes Niesen entfuhr.
Zu ihrer Rechten hörte sie ein genervtes Stöhnen und erkannte die Kontur eines kräftigen Körpers, der sich aufrichtete. Die schwarzen Strähnen, die der Gestalt locker in die Stirn fielen, waren unverkennbar. "Jace? Hab ich dich geweckt?", fragte sie im Flüsterton. Sie wusste nicht, wieso sie ihn nicht einfach ignoriert und gewartet hatte, bis er wieder eingeschlafen war. Vielleicht weil sie in der düsteren Scheune nicht alleine wach sein wollte. "Es war ja kaum möglich weiterzuschlafen bei deinem Niesen.", brummte er müde und rieb sich über die Augen. "Tut mir leid." Jace strich sich seine zerzausten Haare zurück. "Warum bist du wach?" Wenn er flüsterte klang seine Stimme weniger bedrohlich. "Ich kann nicht schlafen. Diese Ruhe ist so erdrückend. Und die Dämonen in meinem Kopf wollen einfach nicht aufhören zu schreien." Sie hörte seinen gleichmäßigen Atem ein paar Schritte von ihr entfernt. "Das kann einen ganz schön fertig machen, was?" Jess nickte, auch wenn er ihre Bewegungen in der Dunkelheit vermutlich nicht erfassen konnte. Jace rutschte durch das Stroh näher zu Jess, damit sie nicht so laut flüstern musste. "Darf ich dich was fragen?" Jace gab ein widerwilliges Brummen von sich, was sie als Zustimmung wertete. "Warum wolltest du, dass ich den Armreif klaue?", fragte sie und gab sich größte Mühe ihr schlechtes Gewissen zu vergessen und die Wut auf Jace und Sophie in ihrer Stimme zu unterdrücken. "Das war ein Test.", gab er trocken zurück. "Aha", sagte sie als erwarte sie eine genauere Erklärung. Doch Jace schwieg. "Und habe ich bestanden?", hakte sie deshalb nach. Er zögerte einen Moment, ehe er antwortete. "Das weiß ich noch nicht. Aber ich weiß dass du das alles verstanden hast, was wir dir die letzten Tage versucht haben zu erklären. Aber es zeigt auch, dass du schwach bist. Und gleichzeitig zu stolz. So stolz, dass du für einen Moment sogar vergisst, wer du wirklich bist." Jess fühlte sich ein wenig gekränkt. Woher wollte Jess wissen, wer sie wirklich war? Aber was Jace sagte, stimmte. Sie hatte nur gehandelt, weil sie von Jace und Sophie unter Druck gesetzt wurde. Sie wollte dazugehören. Sie war schwach. Und zusätzlich hatte sie sich von Zoes Verteidigung, angegriffen gefühlt. Im Nachhinein schämte sie sich dafür, wie kindisch sie sich verhandelt hatte. Schnell versuchte sie deshalb das Thema zu wechseln. "Willst du nicht weiterschlafen?", fragte sie deshalb.
"Ich habe einen leichten Schlaf und wenn ich einmal wach bin, kann ich nicht mehr einschlafen. Ich habe gedacht es ginge jetzt besser, aber anscheinend habe ich immer noch die Reflexe von damals." Er stütze sich rückwärts auf seine Arme und legte seinen Kopf in den Nacken. "Was war damals?", fragte Jess und lehnte sich wieder an einen Berg aus Stroh. Der staubige Geruch, umhüllte sie wie eine Wolke.
"Meine Eltern haben oft gestritten. Meistens nachts, wenn ich schon im Bett lag. Oft habe ich die Schläge und Schreie bis in mein Zimmer gehört, wo ich dann die ganze Nacht wach gelegen habe. Seitdem werde ich bei jedem kleinen Geräusch munter und irgendwie kann ich dann auch nicht mehr einschlafen."
"Dein Vater hat deine Mutter geschlagen?", fragte Jess und versuchte sich den Schock nicht anmerken zu lassen. Ihre Eltern hatten auch oft gestritten, deshalb war der Lärm für sie nichts Neues, doch verprügelt hatten sich sich niemals. "Das sollte man annehmen, oder?", er lachte nervös. "Aber es war andersrum. Meine Mutter hat meinen Vater geschlagen. Anfangs war es nur eine Ohrfeige, später jedoch kräftige Schläge ins Gesicht." Jess versuchte sich vorzustellen, wie eine Frau einen Mann schlug konnte sich jedoch kein Bild vor Augen führen. "Das muss sicher schrecklich für dich gewesen sein.", flüsterte Jess leise und versuchte sich Jace als Kind vorzustellen, wie es verängstigt in seinem Bett lag und den Streit seiner Eltern verfolgte. Wieder war dieser Gedanke für sie unmöglich. "Das war es. Als ich noch klein war, wusste ich nicht was ich tun sollte und habe einfach so getan, als würde ich die Wunden und die blauen Flecke nicht sehen. Später, habe ich meinen Vater darauf angesprochen, aber er hat alles abgestritten und sich Ausreden ausgedacht."
"Aber wieso?", fragte Jess verwirrt.
"Es ist nicht einfach als Mann zuzugeben, dass eine Frau ihn schlägt. Es verletzt ihn in seiner Männlichkeit, verstehst du?" Jess nickte zögerlich.
"Müssen wir weiter darüber reden?", fragte Jace nun verärgert. Sein zuvor verletzlicher Tonfall war verschwunden.
"Nein.", Jess war enttäuscht. Sie hätte ihm gerne weiter zugehört, doch sie wollte ihn auch nicht drängen.
"Die Nachtluft macht mich anscheinend gesprächig.", sagte er in einem ihr unbekannten Tonfall. "Ich möchte dich nicht weiter mit meinem tragisch öden Schicksal vom Schlafen abhalten." Er schob sich einige Zentimeter von Jess fort und legte sich hin.
"Ich höre dir aber gerne zu.", sagte Jess leise und hoffte, dass er das nicht gehört hatte.
"Ich rede aber nicht gerne weiter mit dir.", gab er zurück und drehte sich auf die Seite. Jess war ein wenig gekränkt, machte sich jedoch neben ihm lang. "Okay. Gute Nacht.", sagte sie und schloss die Augen.
Egal wie Jace sich ihr zuvor gegenüber vehalten hatte, sie würde ihn nie wieder mit den selben Augen anschauen können.
Und während ihr Kopf noch versuchte, die zuvor gehörten Worte zu ordnen, fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Die Sonnenstrahlen, die am nächsten morgen durch die vergilbten Fenster fielen, weckten Jess sanft. Die anderen waren bereits wach und packten ihren Sache zusammen.
"Ausgeschlafen?", fragte Zoe und lächelte ihrer Freundin zu. "Mehr oder weniger.", lachte Jess und wollte sich am Liebsten wieder in das Stoh fallen lassen. Mühselig richtete sie sich jedoch nach einem kurzen Moment auf und half den anderen dabei den Müll der Chipstüten und der Bierdosen zu entsorgen. Jace hatte sie heute noch keines Blickes gewürdigt, was auch nicht weiter verwunderlich war.
Sie verließen die Scheune, wie sie sie betreten hatten, teilten sich an ihren Autos auf und verabredeten sich für den nächsten Tag. Sie stieg in Zoes Wagen und fuhr nach Hause.
Zu Jess' Glück war heute Samstag, weshalb ihre Mutter sie morgens nicht geweckt hatte. Das Haus war leer, als sie den Schlüssel in das Schloss schob und die Tür schwungvoll öffnete.
Der gewohnte Geruch nach Parfüm und Parkettreiniger lag in der kühlen Wohnungsluft und Jess fühlte sich sofort geborgen.
Auf dem Wohnzimmertisch fand sie einen Zettel, beschrieben mit der Handschrift ihrer Mutter:
Guten Morgen, Jess!
Arbeite bis heute Abend in der Kanzelei! Frühstück steht noch auf dem Tisch, aber du kommst ja auch alleine klar. Mama.
Wütend schob sie den kleinen Zettel beiseite. Und ob sie alleine klar kam. Sie kam schon seit Jahren alleine klar. Seit ihr Vater abgehauen war, hatte sie niemals eine andere Wahl gehabt. Aber sie hatte ihrer Mutter niemals Vorwürfe gemacht und sie schämte sich auch, wenn sie es jetzt tat. Seit sie und ihr Vater getrennt lebten, musste sie ihre Arbeitszeit verdoppeln und sich alleine um ein pubertierendes Mädchen kümmern, deshalb wollte Jess ihr nicht zusätzliche Probleme bereiten. Das war auch der Grund, wieso sie ihr nichts von Zoe, Miles, Jace oder Sophie erzählt hatte. Sie wollte sie nicht mit ihrem Leben belasten, da sie genug damit zu tun hatte sich um ihr Eigenes zu kümmern.
Auch wenn Jess ihre Mutter nicht anlügen wollte, war es vermutlich das Beste wenn sie es doch tat.
Sie war sich nur noch nicht sicher, wen sie damit versuchte zu schützen.
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Alive - Wie viel ist das Leben wert?
Teen Fiction"Wir haben nichts gespürt. Keine Freude. Keine Trauer. Da war nur diese Leere. Wir haben keinen Sinn mehr im Leben gehabt. Haben jahrelang nur noch existiert. Wir dachten, dass das was wir taten "leben" sei, aber wir haben uns belogen. Die Gesellsch...