Die Scheune lag umgeben von weitläufigen Feldern und wirkte wie eine Oase zwischen der eintönigen Fläche. Das Auto rollte vor dem Holzhaus aus und blieb mit einem Ruck stehen. Sie liefen quer über ein Feld bis hin zu dem großen Holztor. "Was ist so wichtig, dass du es mir nicht in der Schule hättest sagen können?", fragte Jess. Ihr Atem bildete feine weiße Wolken beim Ausatmen. "Das wirst du gleich sehen." Zoe öffnete die quietschende Tür und ließ sie hinter ihnen ins Schloss fallen. Der Geruch von Alkohol und einem schlechten Parfüm sättigte die trübe Luft. Jess ließ ihren Blick über das aufgetürmte Heu schweifen, als er in einer der hinteren Ecke hängen blieb. An einem Heuballen gelehnt saßen drei Jugendliche in etwas ihrem Alter. Vor ihnen lagen einige zusammengeknüllte Dosen Bier. Sie hatten nicht einmal gemerkt, dass sie und Zoe den Raum betreten hatten. "Zoe.", flüsterte Jess leise. "Lass uns verschwinden." Jess misstraute den Jugendlichen und wollte keinen Stress. Außerdem waren sie alkoholisiert und konnten ihre Aggressionen vermutlich nicht kontrollieren. Von Zoe kam keine Antwort. "Zoe." Doch als Jess sich umdrehte, stand ihre Freundin stand nicht mehr hinter ihr, sondern war in die Ecke zu den anderen Jugendlichen gegangen. "Hey, Leute!" Mit einer Vertrautheit klopfte sie den beiden Jungs auf den Rücken. Das Mädchen begrüßte sie mit einer halben Umarmung und ließ sich dann neben sie fallen. "Komm her, J!" Zoe winkte sie zu sich und nahm sich eine der Dosen, die zwischen ihnen lag. Jess versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Kannte Zoe diese Leute? Sie blieb eine Weile wie angewurzelt stehen, bis sie sich zögerlich der Gruppe näherte. Der beißende Geruch wurde stärker, doch Jess versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Zoe klopte neben sich und Jess ließ sich auf den harten Boden fallen. Sie fühlte sich unwohl zwischen all den fremden Gesichtern und wünschte sich nichts sehnlicher, als bei sich zu Hause zu sein mit ihrem Buch in ihrem gemütlichen Bett. Ein Junge mit braun gelockten Haaren reichte ihr eine Bierdose. Jess lehnte dankend ab. Sie trank aus prinzip nicht. Zu besonderen Anlässen genehmigte sie sich vielleicht ein Glas Sekt aber ansonsten lehnte sie Alkohol ab. An dem Abend, als ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hatte, hatte sie sich so betrunken, dass ihr Kopf noch Tage danach dröhnte. Seit dem wurde ihr schon von dem Geruch davon übel. "Also Jess.", begann Zoe. "Das ist Sophie." Sie zeigte auf ein Mädchen mit glatten blonden Haaren und großen braunen Augen, die schwarz umrandet waren. Sie sah nett aus und schüchterte sie am wenigsten ein. Sophie lächelte ihr freundlich zu und nahm einen Schluck aus der Dose, die sie zwischen ihren dunkelrot lackierten Fingern umklammert hielt. Neben ihr saß ein Junge mit schwarzen Haaren, die er unter seiner waldgrünen Kapuzenjacke versteckt hatte. Ein silberner Ring an seiner Nase und ein Lippenpierching blitzten in dem hellen Licht der Scheune auf. Sein ausdrucksloser Blick war starr auf sie gerichtet. Seine grünen Augen schienen sie zu durchstechen und Jess lief ein Schauer über den Rücken. Auch als sie ihn unbeholfen anlächelte, verzog er keine Miene. Zoe stellte den unheimlichen Jungen, als Jace vor. "Und das ist Miles." Sie zeigte auf den Jungen der ihr zuvor das Bier angeboten hatte. Auch er wirkte nach längerer Betrachtung weniger bedrohlich. Doch das erklärte noch immer nicht, was sie hier taten und woher Zoe diese Jugendlichen kannte, von denen Jess noch nie gehört hatte. "Du willst also eine von uns sein?", fragte Sophie und knüllte ihre Dose zusammen. Mit einem Scheppern prallte sie vor ihren Füßen auf den Boden. Jess war verwirrt. Eine von ihnen? Doch ehe sie etwas sagen konnte, unterbrach sie Zoe. "Ich habe ihr noch nichts davon erzählt." Ihre Stimme war merkwürdig gesenkt und hatte diesen geheimnissvollen Unterton, den Jess bereits kannte. Jace seufzte hörbar auf und lehnte sich tiefer in den Heuballen, der ihn stützte. "Wovon?" Jess' Stimme klang nur schwach und leise, doch sofort drehten sich alle zu ihr um. Sie wechselten vielsagende Blicke ehe Zoe das Wort ergriff. "Jess, du hast mir doch gestern was erzählt. Und ich habe gemerkt, dass du das Leben nicht wirklich schätzt." Jess' Augen weiteten sich und Hitze stieg ihr in die Wangen. Sie hasste ihre Freundin dafür, dass sie dieses private Thema vor Fremden ansprechen musste. "Uns allen ging es so wie dir.", sagte nun Sophie und starrte dabei einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand an. Ihre Stimme klang traurig. "Aber dann haben wir uns alle in einer Selbsthilfegruppe für Suizidgefährdete kennengelernt und haben gemeinsam gelernt, was es heißt zu leben." Zoe war in einer Gruppe für Suizidgefährdete? Wieso hatte sie ihrer Freundin dieses Kapitel ihres Lebens verschwiegen. Jess wurde unwohl bei dem Gedanken, dass sie die einzige Freundin, die sie hatte, vermutlich nicht einmal richtig kannte. Plötzlich zweifelte sie daran zu wissen, wer Zoe wirklich war. Diese bemerkte ihren verwirrten Blick und erklärte es genauer. "Wir haben uns einfach immer wieder ins Gedächtniss gerufen, dass wir nur einmal leben und wie kostbar jeder einzelne Moment ist. Er ist viel zu einzigartig, um ihn mit Traurigkeit zu verschwenden oder ihn nicht wertzuschätzen. Und seitdem genießen wir das Leben in vollen Zügen. Und wir kosten jeden Augenblick aus." Jess verstand noch immer nicht, worauf sie hinauswollten. Wieso war sie hier? Hätte Zoe ihr das nicht einfach unter vier Augen erklären können? "Ich verstehe nicht...", setzte sie an, doch sie wurde von Miles unterbrochen. "Wir haben nichts gespürt. Keine Freude. Keine Trauer. Da war nur diese Leere. Wir haben keinen Sinn mehr im Leben gehabt. Haben jahrelang nur noch existiert. Wir dachten, dass das was wir taten "leben" sei, aber wir haben uns belogen. Die Gesellschaft hat und belogen. Hat und eingeredet, dass es hinter unserem grauen Horizont nicht mehr weitergeht. Wir haben die Welt gesehen, wie du sie gerade siehst. Und deshalb haben wir diese Gruppe gegründet. Das Leben ist kostbar, Jess. Verschwende es nicht mit Existieren. Spüre es."Das Gewirr aus Fragen, was sich vor Jess' innerem Auge gebildet hatte, wurde dichter. "Und deshalb treffen wir uns und tuen alles, um zu spüren dass wir am Leben sind." Miles nickte zufrieden, als hätte er gerade die Frage nach dem Sinn des Lebens gelüftet oder eine riesige wissenschaftliche Entdeckung gemacht. "Und was macht ihr?", brachte Jess hervor. "Das wirst du gleich sehen." Jace grinste, als er das sagte und stemmte sich mit einer lässigen Bewegung auf die Füße.
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Alive - Wie viel ist das Leben wert?
Teen Fiction"Wir haben nichts gespürt. Keine Freude. Keine Trauer. Da war nur diese Leere. Wir haben keinen Sinn mehr im Leben gehabt. Haben jahrelang nur noch existiert. Wir dachten, dass das was wir taten "leben" sei, aber wir haben uns belogen. Die Gesellsch...