Er spürte das Gewitter bereits einige Herzschläge bevor der Sturm ihn erreichte und mit all seiner Macht aus der azurblauen Sitzschale schleuderte. Er hatte damit gerechnet, landete behände auf beiden Beinen und einem Arm und blickte auf. Zornig vibrierend richtete sich eine Hundertschaft kupferroter Tentakelhärchen auf Baldors Gesicht, in nahezu perfekter Parallelität mit dem gleichfarbigen Zeigefinger. Sein Vater hatte sich über ihm aufgebaut und versuchte, bedrohlich zu wirken.
Doch Baldor kannte ihn.
Er kannte ihn gut. Seit vierzehn Jahren. Etwas weniger vielleicht, wenn man den Anfang unberücksichtigt ließ, an den er sich nicht mehr ganz genau erinnern konnte. Doch es war genug Zeit, um zu wissen, welche Rädchen er im Kopf seines Dads drehen musste. Wie er ihn besänftigte oder am Ende sogar noch Profit aus seinen gespielten Wutausbrüchen ziehen konnte. Denn mehr war es nicht, nur eine Show.
Er mochte zwar der Präsident ganz Nethufias sein, aber Baldor war sein einziger Sohn, sein Stolz, den er über alles liebte und dem er auf gar keinen Fall wirklich ein Haar krümmen konnte. Mit diesem Wissen rutschte sein Arm, mit dem er gerade noch vermeintlich sicheren Halt auf dem Boden seines tropisch feuchten Zimmers gefunden hatte, ab. Er fiel vornüber und sein Gesicht machte Bekanntschaft mit dem Boden. Der Aufprall erinnerte ihn an seine Kindheit, als er keine Pfütze ausgelassen hatte, ohne in sie hineinzuspringen.
Das Unwetter ebbte sofort ab. "Baldor?" Sein Dad trat näher an ihn heran und Baldor schielte ihn schräg von unten herauf mit dem rechten Auge an. Das Linke war, zusammen mit der Hälfte seines Gesichtes, noch in zwei Zentimetern Wasser und blauer Erde von der heiligen Pewi-Insel vergraben. "Geht es dir gut?"
Er rollte sich auf den Rücken und starrte die Decke an, an der blau die Reflexion von Sonne und Wasser tanzte. Er fragte sich, ob das so eine gute Idee gewesen war, denn an der Stelle des Aufpralls kündigte sich mit leichtem Pochen eine Beule an.
Sein Vater öffnete den Mund zu einem besorgten "Oh" und sein Gesicht entspannte sich. Aber sein Blick war glasig, nicht vollkommen auf Baldor gerichtet. Als galt die Besorgnis nicht wirklich seinem Sohn. Aber was konnte ihn schon erschüttern? Er war der mächtigste Mann des Planeten. Seit dreißig Jahren gab es keinen Feind mehr, den sie fürchten mussten, und selbst die Bodyguards waren nur noch Tradition.
Baldor blieb weiter am Boden liegen. "Hey Dad, geht es dir gut?" Es war nicht so, dass er sich wirklich Sorgen machte, er hatte nur keine Lust, zuzugeben, dass ihm der Kopf wehtat.
Die Augenbrauen seines Vaters, die wie bei jedem Bewohner Nethufs aus winzigen Tentakeln bestand, zogen sich zu einem bedrohlichen Pfeil zusammen, der auf seine gewaltige Nase zeigte. Die würde sich bei Baldor hoffentlich nicht in der gleichen Mächtigkeit ausbilden, sonst würden seine Chancen bei den Mädels rapide sinken. "Ja mit mir ist alles in Ordnung, aber ich versuche, dich seit einer Stunde zu erreichen!"
"Tatsächlich?", mimte der Junge den Unschuldigen. Er wollte ausspannen und hatte nach dem ersten Anruf die Kommunikationskoralle in den wachstumslosen Modus gestellt. Das machte er immer und im Laufe der Jahre hatte er schon so einige Ersatzkorallen bekommen und sein Biotop wurde immer wieder renoviert, weil sich die Bediensteten die angebliche Fehlfunktion nicht erklären konnten. Es gab ja etliche Ursachen, die Hyperwachstum und Schnellverfall der Organismen beeinträchtigen konnten. Baldor grinste innerlich. "Das Ding muss schon wieder kaputt sein."
Die Augenbrauen rückten eine weitere Nuance näher an die Nase, die sich nun ernsthaft in Gefahr fühlen musste. Ärgerte er sich über die Fehlfunktion der Koralle oder hatte er ihn diesmal durchschaut? "Im Raumhafen wartet ein Schiff auf dich."
"Ein Schiff? Hab ich einen Termin verpasst?" Diesmal war seine Ahnungslosigkeit nicht gespielt. Er konnte sich wirklich an keinen Termin erinnern.
"Nein, der Termin hat sich spontan ergeben", fuhr sein Dad mit ernster Miene fort. "Ein Mitglied unserer Familie muss persönlich im Hauptquartier des Galaktischen Bankenzentrums vorstellig werden. Es gibt ein Problem mit unseren Konten."
"Wieso genau muss ich das machen?"
"Weil ich mich um wichtige Staatsgeschäfte kümmern muss und du im Moment sowieso nichts Sinnvolles zu tun hast."
"Aber -", setzte Baldor zu einer Ausrede an, die er dank seiner Diplomatenausbildung in einem Sekundenbruchteil aus dem Ärmel geschüttelt hätte, doch sein Vater unterbrach ihn wirsch. Das war ungewöhnlich.
"Kein aber. Stell dir einfach vor, dass das Schicksal unserer Welt davon abhängt. Außerdem wirst du irgendwann einmal meinen Posten übernehmen und es wird Zeit, dass du wichtigere Aufgaben übernimmst."
Sein Vater war der zweite Präsident des vereinten Nethufias, sein Opa war der Erste gewesen. Der war damals nach dem Krieg noch vom gesamten Volk gewählt worden. Die Bevölkerung war nach Jahrzehnten unter verschiedenen Militärdiktaturen aber zufrieden mit dem, was sie hatten, und hielten es kollektiv nicht für notwendig zur zweiten Wahl zu gehen und so wurde der Posten nach langer Überlegung einfach an seinen Sohn vererbt. Das war an sich auch kein Problem, denn nach dem Krieg stiegen Wohlstand und Zufriedenheit beständig und Nethufia sicherte sich einen Sitz im Galaktischen Rat.
Allerdings hatte Baldor nicht das geringste Interesse daran, diesen Job zu übernehmen. Dass sein Vater Präsident wurde, hatte zwar dafür gesorgt, dass fast jeder nach seiner Pfeife tanzte, aber auch dafür, dass er eine recht einsame Kindheit verbracht hatte.
Dann die Sache mit seiner Mutter. Der war das Leben in der High Society zu Kopf gestiegen. Partys ohne Ende, die sich in ihrer Extravaganz immer weiter übertrafen. Mit den Partys kamen die Drogen und auch bei denen musste sie sich von Mal zu Mal übertreffen. Am Ende starb sie noch vor Baldors zehnten Geburtstag an einer Nebenwirkung der Droge MUW, was für Multiple Universen Wahrnehmung stand. Eine Droge der Vetis, eine Rasse, die sich in ihrer Anfangszeit mit Zeitreisen und Paralleluniversen befasste. Die Droge ermöglichte es dem Anwender, ab dem Zeitpunkt der Einnahme, die Verzweigungen in verschiedenen Universen nach seinen Entscheidungen gleichzeitig wahrzunehmen. Jeder Schritt, jeder Gedanke, einfach alles, das man tat, verursachte angeblich eine Verzweigung. Schon nach Sekunden wurde man dann mit Millionen von Bildern bombardiert. Für einen normalen Verstand eine Katastrophe. Baldors Mutter brannte direkt nach der Einnahme aus.
Er hatte ganz andere Ideen, was er mit seiner Zukunft anfangen wollte. Neben seinem aktiven Kampf gegen den Drogenkonsum auf Nethufia war er leidenschaftlicher Surfer. Die Zeit, die er im SpaceNet verbrachte, war damit nicht gemeint. Nein, das Surfen auf echten Wellen, auf echtem Wasser. Eine Sportart, die auf Nethufia, wo sich alle um Wasser drehte, die höchste Beliebtheit genoss.
Nun, seinem Vater würde das nicht gefallen, und wenn er nicht einen wirklichen Sturm heraufbeschwören wollte, würde er sich seinem Wunsch beugen müssen. "Das Galaktische Bankenzentrum also?"
"Ja und ich erwarte, dass du dich unverzüglich auf den Weg machst." Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und verlieh seinem mürrischen Äußeren noch etwas mehr Nachdruck. Nun, irgendwas musste er ja machen, die Augenbrauen ließen sich nicht noch weiter nach unten ziehen.
"Alles klar, Dad. Mach ich."
Die Miene seines Vaters hellte sich auf. "Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann."
Baldor setzte ein gespieltes Lächeln auf. Nun, das würde sich noch zeigen.
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Tobende Tentakel
Science FictionDas ist kein schöner Tag für Baldor, den einzigen Sohn des Präsidenten. Erst wird sein Heimatplanet von Weltenfressern verputzt, dann muss er sein privates Fluchtraumschiff mit einem Haufen anderer Emigranten teilen und wenn das nicht schon schlimm...