Abstieg (7)

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Vor ihm schwangen Klaras schlaffe Arme im Gleichtakt hin und her. Mit jedem Schritt, den Ngi durch den Tunnel nahm, wechselten sie ihre Richtung und rutschten über seinen metallenen Rücken. Baldors Tentakel waren inzwischen abgefallen, sein Körper war in seine gewohnte Form zurückgekehrt, in der er sich auch um Welten wohler fühlte. So war Ngi die Aufgabe zugefallen, das Mädchen zu tragen. Nur widerstrebend hatte Sergej ihm diese Aufgabe überlassen. Doch seine Haut war noch nicht vollkommen verheilt und die Gefahr, dass er sie mit Teilen seines Arms verletzte, zu hoch.

Er hatte Klaras Verstand nicht mehr finden können. Der Versuch, ihn zurückzuholen, war gescheitert. Trotzdem hatte sich ihre Situation verändert. Sie war ruhig und versuchte nicht mehr, alles und jeden zu fressen. Nur war sie zu ruhig. Sie reagierte auf nichts mehr. Sie hätten vorsichtiger sein müssen. So viele hatten schon an ihr herumgespielt und jetzt war sie in Ihrem Inneren zu dieser verstörenden blauen Kreatur geworden.

"Sergej ... meinst du, dass der Vetis doch etwas in ihr hinterlassen hat. So wie es diese Thages getan haben? Eine Fähigkeit? Oder ..."

"Fähigkeit? Ha! Du meinst wohl eher einen verdammten Fluch!" Sergej brummte, ließ seinen Frust ab. Dann fügte er ruhiger hinzu: "Ich hoffe es nicht. Das, was ich bisher von den Vetis gesehen habe, war erschreckend. Nichts, was ich außer Kontrolle sehen will. Nichts, das in ihr schlummern darf. Nicht nur wegen ihr ... stell dir einen Vetis vor, dem alle Monster der Außenwelt gehorchen."

Baldor dachte darüber nach. Was, wenn aus der Königin eine Tyrannin wurde? "Ich stelle mir gerade vor, wie eine Herde dieser riesigen Echsen über die Zitadellenstadt herfällt."

"Diese Vorstellung ist fast schon aufbauend. Aber alle unsere Freunde dort draußen erwischt es auch. Außerdem ..." Er stieß einen Seufzer aus. "Außerdem werde ich dann der Letzte unserer Familie sein, den die Vetis nicht umgebracht oder umgedreht haben." Er trat einen Stein beiseite, der das Pech hatte, ihm im Tunnel vor die Füße geraten zu sein. Polternd verschwand er in der Dunkelheit. "Ich hatte damit abgeschlossen, dass Toröffnung damals kein wirklicher Sieg war. Die Scheißtypen haben die Hälfte von uns dabei getötet und dann auch noch Moritz in die Finger bekommen. Klara zu beschützen und die, die den Weg in die Wildnis wagten, das ist zu meiner neuen Aufgabe geworden. Das hat mir Kraft gegeben. Einen neuen Sinn. Wir sind nicht miteinander verwandt, aber es fühlt sich trotzdem an, als sei sie meine Tochter. Eine wilde, rebellische und aufmüpfige, aber ich liebe sie." Er machte eine Pause. "Verdammt, ich hatte geglaubt, dass wir die Vetis hier zurückgelassen hätten und jetzt ..." Er ließ die Worte, die er vielleicht noch in sich trug unausgesprochen.

"Es tut mir leid." Der Mann, der ihn die letzten Tage begleitet hatte, der ihm wie ein strahlender Held und Anführer vorgekommen war, hatte für diesen Weg viel bezahlt. Er war nicht ohne Narben, auch wenn sein Köper äußerlich unversehrt war. Baldor hatte mit seiner Mission dafür gesorgt, dass seine alten Wunden wieder aufrissen. "Es tut mir so leid, dass ich euch zurück in die Zitadelle geschleppt habe. Auf eine vollkommen unnötige Reise. Wir haben hier nichts erreicht – nur verloren."

Sergej schüttelte den Kopf. "Wir haben gewusst, dass es noch Vetis in der Zitadelle gibt. Und wir haben gewusst, dass es Leute gibt, die hinter dir her sein werden. Wir sind die Gefahr gewohnt. Es war unsere eigene Entscheidung. Außerhalb der Mauern riskieren wir jeden Tag unser Leben. Wenigstens kann das Monster jetzt keinem mehr etwas antun ..."

Das stimmte. Irgendwann wäre es an die Oberfläche gekommen. Ob das Sicherheitskorps dagegen angekommen wäre? Hätte es den Rest der Menschheit ausgelöscht? Den Planeten gefressen? Baldors Blick fiel wieder auf Klaras regungslosen Körper. Das war trotzdem kein Preis, den er dafür hätte zahlen wollen. Hätte er es nur vorher gewusst.

Sein altes Selbst hätte es. Sein altes Selbst war dort draußen auf dem Meer Nethufias gestorben. Das hörte sich zumindest gut an. Aber ganz falsch war es nicht. Nethufia hatte ihm eine zweite Chance gegeben. Genauso, wie er ihr.

So vieles, das er eigentlich nicht verdient hatte. Diese Menschen, die mit ihm bis in die Tiefen der Zitadelle stiegen, nur weil er etwas Treibstoff brauchte. Er hätte es nicht geglaubt, wenn er es nicht selbst erlebt hätte. Vollkommen selbstlos. Eigentlich war es etwas, das nur wahre Freunde für einen taten. Und selbst seine Freunde auf Nethuf hatten es nicht getan. Er konnte einfach nicht zulassen, dass seine Freunde auf der Erde so endeten. Der starke Sergej, der innerlich zerbrach. Die wilde, freche unzügelbare Klara, die sich in eine emotionslose Puppe verwandelte, unter der Kontrolle eines Monsters. Es war so ungerecht, dass ihnen das passierte. Er biss die Zähne zusammen. Es ... es machte ihn wütend. Es brodelte bei jedem Schritt in ihm, den Ngi tat. Jedes Mal, wenn Klaras Arme hin und her schwangen.

"Klara wird kein weiteres Opfer der Vetis werden, das verspreche ich dir."

Sergej sah ihn müde an und schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. Sein Vorrat an Hoffnung war für heute verbraucht. Umso wichtiger, dass Baldor selbst nicht aufgab.

"Ich meine das ernst." Er reckte das Kinn vor. "Ich habe von meinem Planeten Leute mitgebracht, deren Spezialgebiet die innersten Gedanken anderer Wesen sind. Sie werden erkennen, was mit Klara los ist und wie wir ihr helfen können. Wir müssen sie nur finden."

Sergejs Gesicht hellte sich auf. "Sie sind an der Küste? Dort wo wir dich gefunden haben? Das ist ein weiter Weg. Doch für Klara würde ich auch bis ans Ende der Welt gehen."

Baldor auch. Und Ngis würde sie bis dorthin tragen. Immerhin bezahlte Baldor ihn dafür.

Wie, um ihre Hoffnung zu untermalen, erschien Licht am Ende des Tunnels.

Sie hatten die Oberfläche erreicht.

Tobende TentakelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt