Enklave (3)

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Die Brühe spritzte an Klaras Panzer hinauf und färbte ihn nun endgültig braun. Sie störte das nicht. Sie rannte los, als wüsste sie genau, wohin. Baldor sah ihr kurz hinterher. Ja, da musste es zum nächsten Zitadellenbezirk gehen. Er folgte ihr drei Schritte, dann öffnete er mutig den Mund, um Luft zu holen. Übelkeit überfiel ihn und er taumelte. Er stockte, stützte sich an der Wand ab, deren schmierige Oberfläche seine Hand verschlingen wollte.

Jemand packte ihn.

"Du kannst da nicht stehen bleiben! Komm!"

Sergej zog an seinem Arm und Baldor hüpfte hinter ihm her, wann immer seine Füße Kontakt mit dem Boden fanden. Nach ein paar Sekunden gewann er den Kampf gegen den Brechreiz.

"Ich – kann – selber – laufen!"

Der Griff lockerte sich. Baldor fiel, versank in der Flüssigkeit, bis seine Knie den Boden berührten. Der Inhalt des Kanals reichte ihm bis zu den Oberschenkeln und durchdrang lauwarm seine Hose.

"Dann lauf auch!"

Das war leichter gesagt als getan. Sie waren weit genug von der Einsturzstelle entfernt, das Licht wurde schwächer und er konnte er kaum noch erkennen, wohin er seine Füße setzte. Wie machten das bloß die anderen?

"Ngi, bist du da?"

"Ja, Boss. Ich stehe, wie in jeder Situation, absolut hinter dir."

"Kannst du das Licht einschalten?"

"Klar, Boss, kein Problem."

Ngis Scheinwerfer erhellten den Tunnel und offenbarten die Rücken von Sergej und Klara. Aber das war nicht das einzige Positive, das ihm ins Auge fiel. Ein paar Meter vor ihnen verschwand die Flüssigkeit des Kanals unter einer Abdeckung aus Steinen. Dadurch wurde seine Hose zwar nicht wieder trocken, wenigstens würde er wieder laufen können, ohne Angst, in der morastigen Tiefe zu verschwinden.

Die Steine bewegten sich und Baldor erkannte, was sie in Wirklichkeit waren. Eine Armee aus Ratten bedeckte den Kanal, bis hin zum Rand Ngis zitternder Scheinwerferkegel.

"Müssen wir über die etwa drüberklettern?", fragte Baldor zögernd.

"Besser nicht", riet Klara. "Riesenratten sind manchmal etwas ... eigenwillig. Außerdem sind es ziemlich viele. Wenn die so richtig Hunger haben, fressen sie dich mit Haut und Haaren."

"Haben sie denn Hunger?"

"Ich würde sagen, dass es schon eine Weile her ist, dass sie so richtig gegessen haben."

"Oh."

Sergej drehte sich um, blinzelte gegen das Licht des Scheinwerfers und deckte dann seine Augen ab. "Wie sieht es hinter uns aus?"

Sarah bildete die Nachhut und würde wohl jeden umnieten, der mutig genug war, ihnen zu folgen. Der Gang bot nur Platz für einen, der aufrecht ging, oder vielleicht zwei, wenn sie sich beim Laufen bückten. Die Masse bot den Verfolgern also weder Schutz noch einen Vorteil durch die Überzahl.

"Hier hinten ist alles ruhig. Das feige Pack ist lieber an der Oberfläche geblieben."

"Dir wollte ich auch nicht im Dunkeln begegnen, wenn du eine Laserpistole in der Hand hältst." Diese Aussage hätte in der richtigen Tonlage humorvoll klingen können, doch Sergej meinte es bitterernst. Ob er versucht hätte, die Meute zu besänftigen? Wie denn? Nun, dank Sarah waren sie immerhin entkommen. Ob die Menschen ihnen in die Kanalisation gefolgt wären, wenn sie niemanden dabei verloren hätten? Er wusste es nicht und wollte sie sicher nicht danach fragen. Stattdessen interessierte ihn mehr, was hier los war und wie sie weiterkamen.

"Warum sind hier so viele Ratten? Ist das normal?"

"Viele Ratten auf einem Haufen ist nichts Ungewöhnliches", murmelte Klara. Sie wirkte abwesend. Redete sie gerade mit den Ratten? Ob sie in deren Köpfen wohl genauso auftauchte, wie in seinem? Ob es in jedem ihrer Köpfe ähnlich aussah? "Es sind viele Ratten aus der Unterwelt dabei. Sie sind alle vor dem geflohen, was dort nun haust."

"Die Ratten haben das sinkende Schiff verlassen?", kam es von Sergej, nun wieder mit einem Funken Humor in der Stimme.

"So könnte man es sehen, immerhin war die Zitadelle ja mal ein Raumschiff."

Baldor sah die beiden verwirrt an.

"Wusstest du das nicht?"

"Nein, aber ihr schickt Ratten sogar ins Weltall?"

Klara sah ihn so an, als sei er ein Nethuf auf Schellpilgerschaft. Dann kicherte sie. "Nein. Das mit den Ratten ist ein Sprichwort."

Baldor überlegte sich, ob er im Boden versinken sollte, stimmte dann aber in das Gelächter ein, selbst wenn der Scherz auf seine Kosten ging. Das tat irgendwie gut, obwohl sie sich in einem stinkenden Rohr unter der Erde befanden und es kaum jemanden auf der Erde zu geben schien, der ihn nicht umbringen wollte. Er konnte sich nicht erinnern, ob er hier überhaupt schon gelacht hatte. Die Ratten stießen ein Fiepsen aus, das sich dem Lachen Klaras glich, und Baldor standen die Tentakelhärchen zu Berge. Sergej stieß sie an und sie sah sich mit glasigen Augen um. Sie bemerkte, was die Ratten taten, und wurde wieder ernst. Der Rattenchor verstummte.

"Sie sagen, dass ganz unten Wesen hausen, die nicht sterben können." Klara legte den Kopf schräg und ihre Pupillen wanderten nach oben, ganz so als lausche sie einem Flüstern. Dem Flüstern, das nur sie allein verstehen konnte. "Eines von ihnen frisst alles. Wände, Tunnel, Menschen und Ratten. Kein Ort an, dem sie sich noch verstecken können."

"Was wir auf dem Medienpanel gesehen haben?", fragte Baldor. "War das dieses Wesen?"

Klara zog die Augenbrauen zusammen, und legte ihre Stirn in Falten. Dann nickte sie und starrte Sarah an. "Sag mal, ich habe deinen Namen vorher gehört, als es um das Monster ging. Hast du uns etwas zu sagen?" Ihre Stimme war kühl. Sie wollte Antworten und meinte das todernst.

"Das geht euch nichts an."

"Doch Sarah, das geht uns etwas an." Sergej stellte sich neben Klara und verschränkte seine Arme. "Immerhin ist deswegen ein Lynchmob hinter uns her. Dort draußen in der Wildnis hat deine Vergangenheit vielleicht keine Rolle gespielt. Was auch immer du angestellt hast, war mir egal. Doch jetzt hängt unser Leben davon ab. Wir müssen wissen, welche Leichen du im Keller vergraben hast."

"Leichen?" Sarah lachte bitter auf. "Ja, du hast recht. Mein Keller ist das reinste Mausoleum. Aber ich muss euch gar nichts erzählen. Die waren doch genauso hinter Baldor her. Das gleicht die Sache wieder aus."

Etwas zuckte durch Sergej Gesicht, er schüttelte den Kopf und wandte seinen Blick ab. Baldor wusste zwar nicht, wie das auf der Erde war, aber auf Nethufia wäre es jetzt aus zwischen den beiden. Er fragte sich plötzlich, ob Sarah tatsächlich auf ihrer Seite war. Ihm fiel wieder ein, wie er beim Angriff der Kanter-Gruppe aus dem schützenden Nebel geschubst wurde. War das kein Versehen gewesen und sollte er die nächste Leiche in ihrem Keller werden? Sollte er das Sergej sagen?

"Kannst du etwas gegen die Ratten tun?", fragte der, der sich schon wieder um die Dinge kümmerte, die vor ihnen lagen.

Klara nickte und die Armee setzte sich in Bewegung. Das Meer der Tiere wogte auf sie zu, teilte sich kurz vor ihnen und floss an den Rändern des Tunnels an ihnen vorbei, nur um sich hinter Sarah wieder zu vereinen. Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis die letzte Ratte sie passiert hatte, aber zwischendurch wünschte er sich nicht nur einmal eine bequeme Sitzschale, um sich auszuruhen.

Sie setzten den Weg durch die Kloake fort und nun folgten die Ratten ihnen. Als sie eine Abzweigung erreichten, huschten einige von ihnen an Baldor vorbei und verschwanden in den beiden neuen Tunneln. Klara zeigte auf den linken und sie folgten ihr. Bis zu einer Leiter, die wieder in die Freiheit führte.

Tobende TentakelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt