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Mit einem Seufzen stand ich auf und angelte mein Handy aus meiner Reisetasche. Keine neuen Nachrichten. Hatte ich es denn anders erwartet? Als Erstes öffnete ich meine Bankapp und checkte meinen Kontostand. Nicht wirklich berauschend, aber auch nicht so schlimm wie gedacht. Nur ein neues Hotel konnte ich mir auf Dauer nicht leisten. Mir blieb nichts Anderes übrig, als ein paar Nächte in meinem alten Kinderzimmer verbringen zu müssen, bis ich wusste, wie es weiter gehen würde. Schnell schrieb ich meiner Mutter eine Nachricht, dass ich zu Besuch in der Stadt war und ein paar Tage in ihrem Haus verbringen wollte.

Gerade als ich mein Zimmer verlassen wollte, klingelte mein Handy. Einen kurzen, schwachen Augenblick hoffte ich, es würde Leon sein. Ich schob die aufkeimende Hoffnung in den hintersten Winkel meines Herzens. Es gab keine Zukunft für uns, egal wie sehr ich hoffte. Als jedoch nicht Leons Name, sondern der meiner Mutter mir entgegenblickte, durchströmte mich Erleichterung darüber, dass ich mich jetzt in diesem Moment nicht mit ihm auseinandersetzten musste. Erleichterung darüber, dass ich noch ein wenig Zeit hatte, damit auch mein Herz verstand, dass es kein Zurück mehr gab.

Ich atmete einmal tief durch und nahm den Anruf an. „Hallo Mama.", meine Stimme klang dünn und belegt. „Hallo Schätzchen? Geht es dir gut?"

„Alles bestens", ich versuchte mich an einem Lächeln, auch wenn meine Mutter mich nicht sehen konnte. Wahrscheinlich wollte ich nicht nur sie davon überzeugen, dass es mir gut ging, sondern auch mich selber. „Ich hab das Richtige getan", rief ich mir wieder in Gedanken. „Ich muss an mich selbst denken." Eine Sache, die mir schwerfiel. An mich selber denken. Eine Sache tun, die mir und nur mir etwas brachte, ohne Leon im Hinterkopf zu haben. Ein Umstand, an den ich mich erst noch gewöhnen musste.

„Warum hast du nicht eher Bescheid gesagt, dass du ein paar Tage vorbeikommst?" Ich hörte einen leichten Vorwurf in ihrer Stimme mitschwingen. „Ich und dein Vater hätten es sicher einrichten können zu kommen. Wir haben dich schon lange nicht mehr gesehen."

„Es ... es tut mir leid, es war eine ganz spontane Idee. Vielleicht sollte ich mir lieber ein Hotel nehmen ..."

„Red keinen Blödsinn, Kind. Wir sind immer noch deine Familie und das hier ... das hier ist immer noch dein Zuhause. Du bist jederzeit willkommen. Hörst du? Jederzeit."

„Danke Mama", meine Augen begannen bei ihren Worten zu brennen. Die liebevollen Worte meiner Mutter führten mir wieder mal vor Augen, wie einsam ich mich in den vergangenen Wochen und Monaten gefühlt hatte. Wie sehr ich das Gefühl von Heimat vermisst hatte. Doch ich hatte kein Zuhause mehr. Keinen Ort, an den ich wirklich hingehörte. Den das Recht, mein Elternhaus ein Zuhause zu nennen, hatte ich verwirkt, als ich damals alles hinter mir gelassen hatte, um mein Leben von nun an mit Leon zu verbringen.

„Wo der Schlüssel liegt, weißt du ja. Machs gut, Linda, wir hören bald voneinander."

„Machs gut." Dann legte sie auf. Ich atmete einige Male tief durch. Wie gerne hätte ich mich in diesem Augenblick in ihre Arme geworfen und einfach alles rausgelassen. Ich vermisste sie und meinen Vater in diesem Moment so sehr, dass es beinahe körperlich weh tat. Offensichtlich hatte mich die Kluft zwischen mir und meiner Familie mehr mitgenommen, als ich gedacht hatte.

♦♦♦

Das Haus, in dem ich meine gesamte Kindheit verbracht hatte, sah noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Der Vorgarten war voll mit Büschen, an denen im Sommer blaue Hortensien blühten. Es waren schon immer meine Lieblingsblumen. Lächelnd strich ich im vorbei Gehen mit den Fingern über die Büsche. Ich lief die beiden Stufen zu der weißen Eingangstür hoch und fischte den Schlüssel aus dem Versteck unter einem Blumenkasten. Dort lag er seit meiner Kindheit.

Knarrend öffnete sich die Tür und ein vertrauter Geruch nach Heimat schlug mir entgegen. Meine Kehle fühlte sich auf einmal viel zu eng an. Vorsichtig, fast andächtig, trat ich in den schmalen Flur. Die Wände waren bis zur Hälfte mit weiß gestrichenem Holz vertäfelt. Auf dem dunklen Holzboden lag ein beiger Teppich und überall an den Wänden hingen Fotos. Fotos von mir als Kind, zusammen mit meinen Brüdern. Bilder von und mit meinen Eltern. Ich wendete den Blick ab. Gerade konnte ich diese Fotos nicht ertragen.

Als wir kleiner waren, hatten meine Brüder und ich uns wunderbar verstanden. Natürlich hatten wir uns, wie alle Geschwisterkinder, häufig gestritten, aber wir waren immer füreinander da gewesen. Zum Großteil lag es wohl daran, dass zwischen mir und meinem ältesten Bruder Johannes gerade mal fünf Jahre lagen. Noah, der nur eineinhalb Jahre älter war als ich, hatte oft Stunden lang mit mir gespielt. Doch keinem der beiden hatte ich so nah gestanden wie Henrik. Mein zweitältester Bruder und ich hatten eine ganz besondere Verbindung. Hatten. Als ich vor 3 Jahren mit Leon zusammen weggegangen war, brach diese Verbindung, dieses Band, welches und jeher verband, auseinander.

Ein Geräusch ließ mich aufschrecken. War etwa noch jemand hier? „Hallo?", rief ich.

„Lin?" „Scheiße". Henrik streckte den Kopf durch die Küchentür und schaute mich überrascht an.

„Was tust du denn hier?" „Nein Nein Nein". Mein Herz begann zu rasen. Er sollte nicht hier sein.

„Was tust du hier?", fragte ich ihn und beobachtete, wie er aus der Küche heraustrat und auf mich zukam.

„Ich hab zuerst gefragt", streng musterte er mich. Seine braunen Augen, die meinen glichen, wie ein Ei dem anderen, schauten mich finster an. Wir beide waren unverkennbar Geschwister. Er hatte die gleichen vollen und geschwungenen Lippen wie ich, die gleichen Sommersprossen, die man sogar jetzt im Herbst ganz leicht erahnen konnte. Auch seine Haare, die in einer akkuraten Militärfrisur geschnitten waren, hatten dieselbe Farbe wie meine. Ein warmes Braun.

Ich nahm mir einen Moment Zeit und musterte ihn. Er steckte von Kopf bis Fuß in seiner Militäruniform. Er war mit 18 zur Bundeswehr gegangen und hatte mittlerweile einen ziemlich hohen Rang. Henrik überragte mich gut zum einen Kopf, was bei meiner Größe nicht sonderlich schwer war. In den drei Jahren hatte er sich nicht wirklich verändert. Drei Jahre waren vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten und doch kam es mir in dieser Sekunde so vor, als wäre ich erst gestern ausgezogen. Am liebsten hätte ich den Abstand zwischen uns überbrückt und mich in seine Arme geworfen, doch die Strenge in seinen Blick hielt mich zurück.

„Ich komme nach Hause", sagte ich und versuchte mich an einem Lächeln. Henrik schaute mich nur an. Er öffnete seinen Mund und schloss ihn gleich wieder.

„Ich habe nicht viel geschlafen. Ich lege mich etwas hin. Wir reden später.", sagte ich und lief die Treppe zu meinem alten Kinderzimmer hoch. Um der Situation zu entfliehen. Anscheinend war die Flucht eine neue Angewohnheit meinerseits. Gerade hatte ich keine Kraft, mich dem Gespräch zu stellen, was mich erwarten würde, sobald ich die Treppe wieder herunterstieg. Mein Kopf und mein Rücken schmerzten höllisch und ich wollte mich nur in ein gemütliches Bett legen und schlafen. Doch erst musste ich das Hotel von mir abwaschen.

Oben im Flur sah noch alles so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich ging ins Bad und genehmigte mir eine lange, heiße Dusche. Danach fühlte ich mich schon wieder mehr wie ein Mensch und deutlich besser, auch wenn ich noch immer hundemüde war.

Mitsamt meinen schweren Taschen verließ ich das Bad und bog in mein altes Kinderzimmer ab. Ich blieb in der Tür stehen und sah mich um. Einen Großteil meiner Sachen hatte ich mitgenommen, als ich gegangen war. Nur ein paar Möbel und Kleinkram, den ich nicht brauchte, hatte ich hier gelassen.

Ich nahm frische Bettwäsche aus dem Schrank und bezog das Bett. Danach ließ ich mich mit einem tiefen Seufzer hineinfallen. Es gibt doch nichts Schöneres, als frisch geduscht in einem frisch gemacht Bett zu liegen.

LET LOVE GROWWo Geschichten leben. Entdecke jetzt