[2]

87 19 50
                                    

Völlig überfordert lasse ich mich an der Wand neben der Zimmertür hinab gleiten. Keine Kraft. Keine Ahnung. Keine Erklärung. 

Ich starre geradezu nach vorne, nehme kaum etwas wahr, als würde alles an mir vorbeiziehen. 

Immer wieder versucht ein Gedanke, sich durchzukämpfen, ich will ihn nicht anhören ... 

Trage ich die Schuld? Oder Mitschuld daran? Auch diese Fragen lasse ich einfach dahin schweben. In diesem Zustand ist das möglich, doch mit jedem Ankündigen dieses einen Gedankens sticht es in meinem Körper. 

Ich schaue wieder zur Uhr. Gefühlt sind Stunden vergangen, doch es ist erst 18:12 Uhr. Es bringt nichts, irgendwann muss ich sowieso da runter und mich dem allen stellen. 

Doch bevor ich diesen Schritt wage, ziehe ich das Bett ab, werfe die Bettwäsche zu meiner Kleidung ins kleine Badezimmer en Suite in den Korb und wische den Teppich noch einmal so gut es geht ab. 

Dann öffne ich das Fenster, um hier frische Luft rein und diesen Gestank raus lassen zu können. 

Genug Zeit geschunden, sage ich mir selbst und fasse an die Türklinke. Einatmen. Ausatmen. Los. Vorsichtig drücke ich sie hinunter, öffne die Tür einen Spalt und spähe hinaus. Auf dieser Etage scheint niemand zu sein. Von unten dröhnen Geräusche rauf, darunter die Stimmen meiner Eltern. 

Was soll ich ihnen nur sagen? Warum ich hier bin, wann ich kam? Zu gestern und ihr? Was mit ihr geschehen ist? Ich habe selbst keine Antworten. 

Sonst komme ich nur zum Schlafen hierher, wenn ich in der Stadt arbeite. Deswegen habe ich einen Schlüssel. Zum Glück musste ich sie nicht auch noch wecken. 

Wie lange war ich schon hier, wann kam ich hier eigentlich an? Wie lange habe ich geschlafen? Was sollen sie nur von ihrer Tochter halten? Was würde ich über mich denken? 

Ich muss mit diesem Gedankenkarussell aufhören. Das wird nichts. 

Leise und zaghaft schleiche ich zur Treppe und gehe jede einzelne Stufe extra langsam hinunter, um mir selbst noch so viel Zeit wie möglich zu verschaffen. Doch wie eigentlich immer, erwische ich diese blöde knarzende Treppenstufe und werde durch sie enttarnt. 

»Mäuschen«, höre ich meine Mutter sagen. 

»Jules, bist du auch mal aufgestanden, ja?«, spricht mein Vater weiter. 

Ohne eine Antwort zu geben, gehe ich die Treppe bis zum Ende hinunter, wende mich nach links, um zunächst in die Küche zu gelangen. Erst einmal einen Kaffee, vielleicht würde der meine Sinne zum Erwecken bringen. 

Jedoch wurde dieser Plan direkt durchkreuzt. Meine Mutter schneidet mir den Weg ab, gibt mir stattdessen einen Korb mit Brot in die Hand und meint nur, dass es jetzt erst einmal Zeit für das Abendessen sei und ich danach ebenso noch einen Kaffee trinken könne. 

Ich befolge ihre Befehle, drehe mich um und schlendere zum Wohnzimmer. Komisch, dass sie mich gar nichts fragt. Hatten wir uns gestern schon gesehen? Was ist denn nur mit meinem Hirn los? 

»Na Jules. Du siehst ja nicht ganz fit aus, hm?« 

»Danke Papa, für diese nette Begrüßung«, antworte ich ihm mit leicht hängendem Kopf. 

Da ich noch recht unsicher bin, wie ich das alles gestalten soll, bleibe ich in der Tür zum Wohnzimmer stehen. 

»Wir haben schon mitbekommen, es war wohl eine recht wilde Nacht«, meint er mit einem leichten Zwinkern. 

Bevor ich etwas erwidern kann, kommt meine Mutter, streift an mir vorbei und verschwindet hinter der Ecke zum Esstisch. 

»Na los Mäuschen, soll das Essen kalt werden? Ich habe extra euer Lieblingsessen zubereitet.« 

Unser? Was meint sie mit unserem Lieblingsessen? Außer mir kenne ich nur eine andere Person, die wie ich auf dieses Essen abfährt, doch sie ist nicht mehr da. 

Widerwillig komme ich ihr jedoch nach und begebe mich nun ins Wohnzimmer hinein. 

Nun kann ich den ganzen Esstisch mit allen daran sitzenden Menschen sehen. Mein Vater ganz vorne, meine Mutter hat sich rechts neben ihn gesetzt und ihr gegenüber ... 

Sie? Sie sitzt da?! Bilde ich mir das gerade ein? Was ist hier los? 

Ich sehe, wie mein Vater grinst, weil er wohl erahnt, dass ich nicht mit ihr gerechnet habe. Ich sehe, wie meine Mutter verwirrt umherschaut, weil sie nichts mehr durchblickt. Und ich sehe noch ihre Augen, ihre wunderschönen Augen, in die ich mich einst verliebte, bevor mich meine Kräfte verlassen und mir vollends schwarz vor Augen wird ... Ich höre noch, wie der Korb mit dem Brot auf dem Boden aufkommt und die einzelnen Scheiben sich davon machen. 

Das Letzte, was ich vernehme, ist, wie Fay 'Jul' ruft. 

hope_gapWo Geschichten leben. Entdecke jetzt