Ich war gerade dabei, meinen Freunden eine Nachricht in die Gruppe zu schicken, dass ich sicher Zuhause angekommen war, während ich gleichzeitig versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Nach mehreren Anläufen schaffte ich es und betrat den kleinen Flur, welcher zu meiner Wohnung und der Treppe führte, die nach oben zu einer weiteren Wohnung führte, die zur Vermietung frei stand. Mein Blick war noch immer auf das Handy gerichtet, weswegen ich den Stapel Kisten übersah und dagegen prallte. Erschrocken sah ich auf und blickte verwundert auf die ganzen Kisten im Hausflur. Hatten wir einen neuen Mieter? Meine Mutter hatte mir gar nichts gesagt. Im Gegenteil. Noch Anfang der Woche hatte sie mir einen Vortrag gehalten, dass wir momentan mehr auf das Geld achten müssten.
Als ich meinen Blick durch den Flur schweifen ließ, tauchte plötzlich eine Frau auf, die mich schmunzelnd betrachtete. Hatte sie die peinliche Aktion etwa von der Treppe aus beobachtet? Vermutlich. Mit verschränkten Armen stand sie an der Treppe und sah mich an. »Ich wollte eigentlich schon längst damit fertig sein, aber die Idioten von der Umzugsfirma haben anscheinend zwei Umzüge auf den gleichen Tag gelegt und wohl auch nicht genug Mitarbeiter, um beides zu erledigen«, sagte sie sauer, während sie eine der Kisten vom höchsten Stapel nahm und auf die unterste Stufe der Treppe stellte. »Die Möbel haben sie noch reingetragen, aber danach sind sie schnellstmöglich abgehauen.«
Als ich bemerkte, dass ich immer noch nur schweigend dastand, riss ich mich aus meinen Gedanken. »Ich könnte helfen, wenn Sie wollen?«, fragte ich höflich nach und betrachtete die rothaarige Frau. Sie hatte blaue Augen und war etwas größer als ich. Wie alt sie wohl war? Vielleicht Anfang 30? Zumindest wesentlich jünger als unser letzter Mieter. Sie lächelte leicht und warf einen Blick auf die Kisten und dann wieder zu mir. »Wenn du es schaffst, die anzuheben«, antwortete sie mit einem belustigten Unterton. Sah ich wirklich so schwächlich aus? Ich legte meine Tasche beiseite und wollte die nächste Kiste vom selben Stapel nehmen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie unsere neue Mieterin mich mit einem Schmunzeln auf den Lippen beobachtete. Die Kiste war tatsächlich nicht wirklich leicht. Mit aller Kraft nahm ich die Kiste hoch und stolperte dabei nach hinten. Die Frau griff schnell nach der Kiste, um uns aufzuhalten, damit ich nicht mit dem Hinterkopf gegen die Wand knallte.
»Danke«, murmelte ich verlegen. Peinlicher konnte das Kennenlernen nicht mehr werden. Und ihr amüsierter Blick machte das alles nicht gerade angenehmer. »Schaffst du es die Treppen hoch, ohne dir irgendwas zu brechen?« Ihr Grinsen wurde eine Spur breiter. »Witzig. Ja, ich schaffe das«, antwortete ich nicht ganz so fröhlich und trug die Kiste dann nach oben. Es waren nur ein paar Stufen, aber trotzdem kostete es einiges an Kraft. Was hatte sie da bitte drinnen? Neugierig war ich ja schon, aber ich würde sicher nicht einfach in fremden Eigentum schnüffeln. Davon ab kam nur Sekunden später schon die Frau mit einer weiteren Kiste nach oben. »Wie heißt du überhaupt?«, fragte sie mich, während wir zusammen nach unten gingen. »Avery«, antwortete ich, »Und Sie?«
»Bitte, hör mit dem Sie auf und nenn mich Patricia.« Sie klang leicht genervt und sofort fragte ich mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Allerdings kannte ich sie aber auch nicht und es war einfach ihre normale Art. Na immerhin war sie eine deutliche Verbesserung zum letzten Mieter. Alles wäre eine Verbesserung gewesen.
Zusammen trugen wir noch die restlichen Kisten nach oben, wobei ich am Ende ziemlich fertig war.
»Willst du was trinken?«, fragte Patricia, als wir die letzten beiden Kisten abgestellt hatten. Sie ging bereits in die Küche, ohne auf eine Antwort zu warten und ich folgte ihr einfach. Auf dem Tisch standen zwei Wasserflaschen, wovon sie mir eine anbot. »Mit Gläsern kann ich noch nicht dienen, außer du hast Lust zu suchen.« Immerhin klang sie wieder besser gelaunt als auf der Treppe. Lässig lehnte sie am Herd und beobachtete mich wieder sichtlich amüsiert. »Du schaffst es aber zu trinken, ohne die Flaschen fallen zu lassen, oder?«, fragte sie und trank dann selbst etwas. Ich verdrehte die Augen und nahm die Flasche vom Tisch. »Sind Si- Bist du immer so unglaublich charmant?« Ihre blauen Augen funkelten gefährlich, als hätte ich sie gerade herausgefordert. »Meistens«, antwortete sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. Einschüchternd. Das war das passende Wort für diese Frau. Ihre Haltung. Ihre Art. Vor allem ihr Blick. Als würde man einem Raubtier gegenüberstehen.
Ich konnte es nicht ganz erklären, aber irgendwie fühlte ich mich unwohl, so wie sie mich ansah. Dennoch besser als ihr Vorgänger. Seine Blicke waren wesentlich schlimmer. Jedes Mal glitt sein Blick über meinen gesamten Körper, als hätte er seit Jahren keine Frau mehr gesehen. Einfach widerlich, weswegen ich immer versucht hatte, ihn zu meiden.
»Avery?«, fragte Patricia nach. Vermutlich nicht zum ersten Mal. »Ja?« Erst jetzt bemerkte ich, dass ich sie die ganze Zeit angestarrt hatte. Ich spürte, wie ich leicht rot wurde und trank schnell noch etwas Wasser. Einfach, um meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. »Woran hast du gerade gedacht?«, fragte sie wieder mit diesem Lächeln, welches mich irgendwann noch wahnsinnig machen würde. »An den vorherigen Mieter.« »Enttäuscht, dass er weg ist und ich jetzt hier wohne?« Ich verschluckte mich fast an dem Wasser, als sie das sagte und schüttelte den Kopf. »Nein. Im Gegenteil. Ich bin froh, dass er weg ist«, antwortete ich und stellte die mittlerweile leere Flasche auf den Tisch.
»Wieso?«, fragte sie ehrlich interessiert, aber der amüsierte Unterton blieb. »Weil er ein Arsch war.« Sie hob fragend eine Augenbraue und wartete auf eine ausführlichere Erklärung. Ich seufzte. »Sagen wir... Er konnte seinen Blick nicht von mir lassen. Mich im Garten sonnen konnte ich vergessen, solange er hier gewohnt hatte. Er war widerlich«, antwortete ich angewidert, als ich daran dachte, wie er auf dem Balkon gestanden und mich im Garten beobachtet hatte. Ich schüttelte den Kopf. Das war Vergangenheit. »Er hat dich aber nicht angefasst, oder?«, fragte sie jetzt ernst nach. Ich zuckte bei der direkten Frage zusammen und sah sie kurz erschrocken an. So direkt hatte mich das keiner meiner Freunde gefragt, als ich ihnen von dem Kerl erzählt hatte. »N-Nein. Aber seine Blicke haben schon gereicht«, antwortete ich leise, bevor ich mich verabschiedete und wieder nach unten ging. Ich schloss unsere Haustür auf und wurde direkt von dem Geruch von gebratenen Nudeln begrüßt. Scheinbar war meine Mutter vor kurzen nachhause gekommen.
»Wann wolltest du mir eigentlich sagen, dass wir eine neue Mieterin haben?«, fragte ich, nachdem ich sie begrüßt hatte und schon mal den Tisch deckte. »Du hast Patricia anscheinend kennengelernt? Das hat sich alles im Laufe der Woche ziemlich spontan ergeben. Sie musste schnellstmöglich aus ihrer Wohnung raus und wir können uns nicht erlauben, die Wohnung zu lange leer stehen zu haben.« Eine einfache und knappe Antwort hätte mir zwar auch gereicht, aber gut. Meine Mutter versuchte sich immer ausführlich zu erklären, auch wenn es unnötig war. Eine Eigenschaft, die sie noch aus der Zeit hatte, als sie mit meinem Vater zusammengelebt hatte. Oder besser gesagt Erzeuger, denn Vater konnte man das kaum nennen. Wir aßen zusammen und unterhielten uns noch eine Weile, bevor ich mich bettfertig machte und mich mit einem Buch ins Bett legte. Morgen war der letzte freie Tag, bevor das letzte Schuljahr anfangen würde. Ich seufzte, als ich wieder an die Schule dachte und versuchte, mich mit dem Buch etwas abzulenken. Das letzte Jahr...
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Verbotene Küsse
RomanceAvery beginnt ihr letztes Schuljahr, bevor sie endlich alles hinter sich lassen und für ein Studium umziehen kann. Ein letztes Jahr mit ihren Freunden um zu feiern, auf Dates zu gehen und vielleicht endlich die große Liebe zu erleben. Letzteres pass...