Als wäre nichts gewesen

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»Guten Abend, Avery«, begrüßte er mich freundlich und setzte ein breites Lächeln auf. Es sollte freundlich wirken, aber bei mir schrillten sämtliche Alarmglocken. Das Lachen meiner Mutter war ebenfalls verstummt und sie sah mich nur noch mit einem halben Lächeln an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte nicht mal etwas sagen, so geschockt war ich von diesem Anblick. Meine Mutter und mein Vater, wie sie im Flur standen und sich in aller Ruhe die Schuhe auszogen. Plötzlich fühlte ich mich wieder in die Zeit von vor zwei Jahren versetzt. Das alles war so surreal. Als wäre er nie weg gewesen. Als hätte jemand die letzten zwei Jahre einfach aus unserem Leben gelöscht und alles lief so weiter wie damals. Das konnte nicht wahr sein. Alles in mir schrie mich an, dass ich abhauen sollte. Meinen Vater vor die Tür setzen sollte. Ich wollte meine Mutter anschreien, was das zu bedeuten hatte. Aber ich blieb einfach nur da stehen und sagte nichts.

»Avery Liebes. Es ist unhöflich, seinen Vater nicht zu begrüßen«, sagte er noch immer mit diesem ekelhaften Lächeln, aber seine Stimme klang nicht mehr so fröhlich wie bei der Begrüßung. »Hallo«, erwiderte ich völlig emotionslos. Sein Lächeln wurde breiter und die beiden gingen an mir vorbei in die Küche. Meine Mutter streichelte beim Vorbeigehen meinen Arm. »Das riecht wirklich köstlich«, hörte ich meinen Vater aus der Küche, während ich selbst noch immer im Flur stand. Meine Hände zitterten und mir wurde übel. Auch der leckere Geruch konnte mich nicht mehr überzeugen. Ich würde nichts runterbekommen, selbst wenn ich wollte. Ich nahm nur am Rande wahr, wie ich gerufen wurde. Nur langsam schaffte ich es, mich in Bewegung zu setzen und ging in die Küche. Mein Vater saß bereits am Tisch und hatte sich Wein eingeschenkt, während meine Mutter uns Essen auftat. Zuerst meinem Vater, dann mir. Die ganze Szene war einfach nur falsch. Ich hatte das Gefühl, als hätte jemand aus meiner Vergangenheit einen Film gemacht und diesen müsste ich mir gerade ansehen.

Hatten die letzten zwei Jahre überhaupt existiert? War er je weg gewesen? Ich zweifelte an meinem eigenen Verstand. Was passierte hier? »Setz dich doch«, sagte mein Vater freundlich und wies auf den Stuhl neben ihn. Ich blieb, wo ich war. Wie sollte ich mich neben ihn setzen, nach allem? Wie konnte er das verlangen? »Hinsetzen« Es war keine Bitte mehr. Jegliche Freundlichkeit war aus seiner Stimme gewichen. Zögerlich ging ich zum Tisch und setzte mich. Ich wollte ihn nicht verärgern und gleichzeitig wollte ich ihm alles entgegenschreien, was mir durch den Kopf ging. Aber ich konnte nicht. Wenn ich ihn jetzt verärgerte, dann würde er seine Laune später nur an meiner Mutter auslassen. Das konnte ich nicht zulassen. Also schwieg ich, während wir aßen. Meine Eltern unterhielten sich über belanglose Dinge. Über alles, nur nicht über die letzten Jahre und was davor war. Als hätte es diese Zeit nie gegeben. Sie taten einfach einen auf heile Familie und ich antwortete nur, wenn ich etwas gefragt wurde. Mein Vater erkundigte sich ernsthaft, wie die Schule bei mir lief, ob ich schon wusste, was ich danach machen möchte und wie mein Liebesleben aktuell aussah. Normale Fragen, wenn sie von einem normalen Vater kommen würden.

Aber ich wusste es besser. Er fragte nicht meinetwegen oder um freundlich zu sein, sondern er fragte mich aus. Aus reinem Eigeninteresse. Nach dem Essen ging mein Vater ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, während meine Mutter in der Küche stand und den Abwasch erledigte. Kurz überlegte ich, ihr zu helfen, aber ich ertrug diesen Anblick nicht länger und ging in mein Zimmer. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er wieder da war und im Wohnzimmer saß, als wäre es völlig normal. Aber das war es nicht. Er gehörte nicht mehr zu dieser Familie. Nicht für mich. Kraftlos legte ich mich auf das Bett und ließ alles nochmal Review passieren. Das war alles so absurd. Hätte mir vor einer Woche jemand von diesem Abend erzählt, hätte ich laut gelacht. Doch jetzt lachte ich nicht. Ich lag einfach nur da und starrte die Wand an. In diesem Moment fühlte ich mich so machtlos, weil ich einfach nichts dagegen tun konnte, dass er hier war. Ich konnte ihn schließlich nicht einfach aus dem Haus werfen, wenn meine Mutter ihn hier haben wollte. Und ehrlich gesagt traute ich mich auch nicht.

Irgendwann piepte mein Handy. Ein kurzer Blick darauf zeigte, dass es Emily war, die sich nach dem bisherigen Abend erkundigte. Ich hatte gerade keine Lust zu Antworten, weswegen ich das Handy wieder weglegte. Die halbe Nacht lag ich einfach nur da und dachte über alles nach. Wie innerhalb weniger Tage mein ganzes Leben so aus dem Ruder laufen konnte. Erst entwickelte ich scheinbar Gefühle für meine Lehrerin und jetzt auch noch dieser Abend. Meine Mutter konnte doch nicht wieder wirklich mit ihm zusammen sein wollen, oder? Das konnte nicht ihr ernst sein.

Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein. Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, schien bereits die Sonne. Ich blickte auf mein Handy und erstarrte. Die erste Stunde hatte bereits angefangen. Ich hatte gestern völlig vergessen, meinen Wecker anzuschalten. Dazu kamen 3 Nachrichten von Emily, 9 in unserer Freundesgruppe und 4 verpasste Anrufe. Scheiße! Schnell sprang ich auf, lief ins Bad, um zu duschen, zog mich an und sprintete dann zum Bus. Immerhin war heute Morgen niemand Zuhause gewesen, aber warum hatte meine Mutter mich nicht geweckt? Erst zum Beginn der zweiten Stunde kam ich völlig atemlos in der Schule an und entschuldigte mich bei Frau Mais, unserer Englischlehrerin. Immerhin hatte sie gute Laune und machte nur eine lustig gemeinte Bemerkung, bevor sie mich wieder in Ruhe ließ. Einen Eintrag ins Klassenbuch würde ich dennoch bekommen. Sofort fragte Emily leise, was los war, aber ich verschob das Gespräch auf später, bevor ich den Englischunterricht völlig ausblendete und mich meinen Gedanken hingab.

Irgendwann standen dann plötzlich alle auf und ich bemerkte, dass der Unterricht bereits vorbei war. »Avery, du bleibst bitte kurz.« Ich hätte mir ja denken können, dass Frau Mais noch nicht mit mir fertig war. Sie wartete, bis alle draußen waren, dann sah sie mich etwas ernster an. »Falls du denkst, ich würde nicht merken, dass du meinen Unterricht völlig ignorierst, liegst du falsch. Erst kommst du eine Stunde zu spät und dann das. Was ist denn heute los mit dir?« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Über die Wahrheit wollte ich gerade nicht sprechen und eine gute Ausrede hatte ich auch nicht parat. »Tut mir leid. Ich habe einfach verschlafen und dazu noch Kopfschmerzen«, log ich und hoffte, dass sie mir glauben würde. Einen Moment lang sah sie mich einfach nur an und schüttelte dann den Kopf. »Okay, gut. Für heute glaube ich dir die schwache Ausrede mal. Aber lass das nicht zur Gewohnheit werden, okay? Es ist schließlich euer letztes Jahr und die Noten sind wichtig.« Ich nickte nur und war froh, dass sie es dabei beließ. Zusammen verließen wir den Klassenraum und ich machte mich auf den Weg zu meinen Freunden.

In der Pause erzählte ich alles, was gestern passiert war, woraufhin mich alle ungläubig ansahen und sich darüber aufregten, was meine Eltern sich dabei dachten. Das Thema zog sich durch die gesamte Pause, aber ich war froh, dass ich es ihnen gesagt hatte. Sie boten mir alle an, dass ich jederzeit vorbeikommen könnte, wenn etwas wäre oder ich einfach nur reden wollte. Sie wussten genau, wie es mir damals ging und ich war froh, dass ich so gute Freunde hatte, die sich um mich sorgten. Trotzdem wollte ich ihnen nicht wieder meine ganzen Probleme aufhalsen. Ich hatte mich damals schon mies gefühlt, deswegen. Eine Wiederholung der Ereignisse wollte ich vermeiden. Auch auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer sprachen wir noch über meine Eltern. Zumindest meine Freunde. Ich ertappte mich dabei, wie ich Ausschau nach Patricia hielt, obwohl ich wusste, dass wir sie nachher noch in Sport hatten. Oh nein... Ich hatte im Stress meine Sportsachen Zuhause vergessen. Das wäre dann wohl der zweite Eintrag für heute. Und wenn ich Pech hatte, würde sie mich auch wieder ausfragen. Ich seufzte leise und ging innerlich schon mal einige Ausreden durch. Eine innere Stimme sagte mir jedoch, dass es nichts bringen würde. Nicht bei Patricia, die ohnehin schon ein Auge auf mich hatte.

Die weiteren Stunden vergingen wie in Zeitlupe. Meine Freunde boten mir an darüber zu reden und versuchten mich abzulenken, als ich ablehnte. Beides hatte nicht den gewünschten Erfolg, weswegen ich mich nun auch noch schlecht fühlte, weil ich den anderen die Laune vermieste. Zumindest redete ich mir das ein. Natürlich wusste ich, dass es nur meine eigene Negativität war und sie das ganz anders sahen, aber die Gefühle ließen sich nicht abschalten. Ebenso wenig wie die Schmetterlinge in meinem Bauch, als Patricia an uns vorbeilief und uns kurz zulächelte. Ich erwiderte das Lächeln und für einen Moment wurde meine Laune etwas besser. Dennoch blieb die Angst in meinem Hinterkopf, was nach der Schule passieren würde. Ob mein Vater immer noch oder wieder da war und ob er vorhatte, bei uns einzuziehen. Eine Frage, die ich seit gestern vermieden hatte, aber dennoch war sie allgegenwärtig. Und es gab nichts, was ich dagegen tun könnte.

Als wir dann in den letzten Stunden Sport hatten, ging ich als erste in die Sporthalle, während sich alle noch umzogen. Patricia war gerade dabei, die Schwebebalken aufzustellen. Ihr Blick glitt zu mir und sie begrüßte mich mit einem Lächeln. »Was machst du denn hier? Hop hop, geh dich umziehen«, sagte sie fröhlich, während sich mein Magen unangenehm zusammenzog. Ob es an Patricia lag oder der Angst, weil ich meine Sachen vergessen hatte, wusste ich selbst nicht. Vermutlich die Kombination aus beiden. Die Ferien waren gerade mal seit einigen Tagen vorbei und ich wurde schon öfter von den Lehrern angesprochen als im gesamten letzten Jahr.
»Ich kann nicht mitmachen. Ich habe meine Sportsachen Zuhause vergessen«, brachte ich kleinlaut hervor. Es war mir verdammt unangenehm. Es würde mich nicht mal wundern, wenn im Lehrerzimmer bereits über mich gesprochen wurde und zu wissen, dass Patricia meine schlechten Seiten kennenlernte... Ich hasste mich selbst dafür. Hoffentlich würde bald wieder alles besser werden. Das alles gerade durfte nur eine kurze, schlechte Phase sein. Ich wollte doch in meinem letzten Jahr besonders gut sein und vor allem wollte ich, dass Patricia einen guten Eindruck von mir hatte. Letzteres war bisher vermutlich weniger erfolgreich. Der Blick, den sie mir gerade zuwarf, bestätigte das nur.

»Avery...«, seufzte sie und schien kurz nachzudenken. Ob ich jetzt direkt den nächsten Eintrag bekommen würde? Vermutlich. »Tut mir leid«, murmelte ich verlegen. »Du weißt, dass ich das eintragen muss.« Ich nickte. Natürlich. »Ich kenne dich noch nicht so lange wie die anderen Lehrer, aber heute wurde im Lehrerzimmer über dich gesprochen. Scheinbar ist mehreren bereits aufgefallen, dass du die letzten Tage abgelenkt gewirkt hast. Heute kommst du dann auch noch zu spät und vergisst deine Sachen. Alles Kleinigkeiten, über die ich mir an sich noch keine großen Sorgen machen würde. Aber es wurde auch erwähnt, dass das Gleiche vor zwei Jahren schon mal der Fall war und du damals so weit abgerutscht bist, dass du beinah sitzen geblieben wärst.« Ich zuckte zusammen, als sie das erwähnte. Also wurde wirklich über mich gesprochen und das Thema wurde auch wieder ausgegraben. Na super.

Damals hatte man mich nur nicht sitzengelassen, weil meine besonderen Umstände, wie die Lehrer es genannt hatten, dazu geführt hatten, mir noch eine Chance zu geben. Es hatte sich irgendwann rumgesprochen, was bei mir Zuhause los war, aber kurz darauf hatte sich das alles von selbst gelöst, als mein Vater abgehauen war. Danach ging auch alles ziemlich schnell wieder Bergauf. Wir hatten beide eine Therapie angefangen und im nächsten Jahr ging es mir so weit wieder gut, dass auch meine Noten schnell besser wurden. Ich gehörte zwar bei weitem nicht zu den Besten, aber immerhin war ich gut genug, dass man sich keine Sorgen mehr machen brauchte. Im Moment hatte ich das Gefühl, dass sich alles wiederholen würde und da war ich scheinbar nicht die Einzige.

»Wenn irgendwas los ist, bitte sprich mit jemanden darüber. Ich höre dir gerne zu. Und auch die anderen Lehrer wären jederzeit für dich da«, sprach sie weiter, da ich nicht geantwortet hatte. Ich wollte gerade etwas erwidern, als die ersten Schüler in die Halle kamen. Patricia verstand, dass ich nicht reden wollte, wenn noch jemand anwesend war, weswegen sie mich zu den Bänken schickte. Dort durfte ich dann die nächsten zwei Stunden herumsitzen und den anderen beim Sport zusehen. Mein schlechtes Gewissen schrie mich ebenfalls die ganze Zeit an, was mich zusätzlich runterzog. Aber was sollte das Reden schon groß bringen? Dass ich mich kurzzeitig besser fühlte? Selbst wenn jemand die Polizei oder das Jugendamt oder wen auch immer anrief, um zu helfen. Ich war mir fast sicher, dass meine Mutter für meinen Vater lügen würde und solange sie oder ich keine offensichtlichen Verletzungen hatte, würde niemand etwas unternehmen. So lief es leider immer ab. Hilfe bekam man immer erst dann, wenn das Schlimmste bereits passiert war.


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Guten Tag an alle, die es bis hierhin geschafft haben. :)
Ich weiß, die letzten Kapitel waren weniger Lovestory und mehr auf Averys Vergangenheit bezogen und ich kann mir vorstellen, dass es einige eventuell verjagt, die mehr Romanze lesen wollen. Aber ich verspreche es wird in den nächsten 1-2 Kapiteln wieder vermehrt um die Liebesgeschichte zwischen Avery und Patricia gehen. :)

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 09, 2022 ⏰

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