Ein besonderer Brief

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Es war ein ganz normaler Tag, zumindest fühlte es sich so an. Pulcinella trainierte mit seinen Rekruten und Childe half ihm wie immer dabei. Für einen Moment überlegte er, ob er ihm eigentlich noch ins Gewissen reden sollte, wegen der Mission, aber es änderte ja auch nichts daran, dass Childe wieder leichtsinnig und unüberlegt Chaos ausgelöst hatte. Chaos ... nicht nur in den Bergen, sondern auch in seinem Kopf. Er wusste im Grunde nicht mal, wie er darüber sprechen sollte, über das, was in dem verlassenen Minenschacht geschehen war. Am besten würde er den Vorfall nicht mehr ansprechen, vor allem nicht jetzt.

„Childe. Hilf mir mal", meinte er nach dem Training, als die Soldaten schließlich vom Feld gingen.

„Klar", erwiderte Childe und half ihm beim Abtransport der Trainingsgegenstände. Pulcinella wusste nicht, ob es nur seine eigene Wahrnehmung war, oder ob Childe bewusst versuchte, dabei immer seine Hand zu berühren. Schweigend räumten sie weiter ab, aber seltsamerweise wurde die Stille zwischen ihnen immer unangenehmer...

„Uhm... wegen gestern...", fing Childe schließlich verlegen an und Pulcinella ließ fast seine Trainingswaffe fallen.

„Ja?", entgegnete er schließlich möglichst gefasst, „ich bin nur froh, dass das alles so glimpflich ausgegangen ist, nach allem, was passiert ist..."

„Ja, schon. Aber das meinte ich nicht. Uhm... also in dem Schacht... als du mich aufgewärmt hast...", redete Childe weiter.

„Gerne. Dir war ja kalt...", antwortete Pulcinella distanziert und zögerlich. Der Strick um seinen Hals zog sich langsam zu. Bald würde Childe anfangen, darüber zu reden...

„Uhm... ja...", murmelte Childe nur verlegen und biss sich auf die Lippe. So kannte er seinen ehemaligen Auszubildenden gar nicht, aber er war ultimativ dankbar, dass ihm dieses peinliche Gespräch nun erspart blieb.

„So. Fertig. Wir sehen uns dann morgen", schnitt er ihm das Gespräch ab und verabschiedete sich frühzeitig. Vielleicht wären bis dahin das Chaos und die unangenehme Spannung verschwunden. Vermutlich leider nicht...

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So verwirrt war Childe selten gewesen. Eigentlich war die Erinnerung von vor zwei Tagen noch sehr lebendig, aber weil Pulcinella ihn nun so behandelte, als sei rein gar nichts passiert, zweifelte der junge Harbinger langsam an seinem Verstand. „Vielleicht hab ich mir in dem Schacht den Kopf gestoßen und das alles nur geträumt", ging es ihm durch den Kopf. Dass er ihn aufgewärmt hatte, war die eine Sache, aber warum sollte Pulcinella ihn küssen? Er konnte sich nicht wirklich einen Grund vorstellen. Vielleicht waren sie dort unten einfach nicht sie selbst gewesen. Falls es wirklich passiert war, wusste er auch nicht, wie es jetzt überhaupt weitergehen sollte.

Da er die Mission ausgeführt hatte, ob erfolgreich oder nicht, hatte er zumindest Mora von der Abenteuergilde erhalten. Und eigentlich wollte er auch wieder zurück nach Liyue, das war zumindest der Plan gewesen. Grübelnd saß er am Kamin in seinem Zimmer und schaute aus dem Fenster. Er stellte sich vor, wie er zusammen mit Pulcinella auf der Couch saß, lachte, und redete, sich dann an ihn lehnte und sie sich küssten... aber das war vermutlich komplett lächerlich. Sie passten überhaupt nicht zusammen und es hatte schon mal nicht geklappt.

Jetzt waren die Karten zwar wieder neu gemischt, nur wusste Childe nicht, was er jetzt konkret tun sollte. Pulcinella würde sich sicherlich für immer wegignorieren, was in der Mine passiert war. Nur... war es überhaupt wirklich passiert oder würde er sich nur wieder auf ganzer Linie blamieren, wenn er auf ihn zuging? Er hoffte auf irgendein Zeichen... irgendetwas...

Plötzlich hörte Childe ein leises Geräusch vor seiner Tür. Als er in die Richtung blickte, bemerkte er, dass sich eine Art Umschlag unter der Tür durchschob. Bis Childe realisierte, dass der Umschlag das nicht von alleine tun konnte, zur Tür gelaufen war und diese geöffnet hatte, war niemand mehr da. Verwirrt schnappte er den Umschlag und öffnete ihn. Darin lag ein Brief...

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„Mein Childe,

es blieb neben der ganzen Arbeit nicht viel Zeit für uns zum Reden. Lass mich erstmal diese Woche überleben. Wenn du willst, können wir uns jetzt am Wochenende treffen. Ich würde vorschlagen, wir gehen spazieren oder Eislaufen auf dem kleinen Weiher im Wald. Du musst mir nicht antworten. Komm morgen bei mir vorbei, ich warte auf dich.

Herzlichst,

Pulcinella"

Wenn er allein daran dachte, was er da geschrieben hatte, dann war es ihm schrecklich peinlich. Vermutlich hielt Childe gerade seinen Brief in den Händen und las ihn... jetzt gab es kein Zurück mehr. Aber er hatte gestern zufällig gesehen, wie Childe bei der Abenteuergilde das Geld abgeholt hatte... und er war sich nicht sicher, ob er nicht schon wieder fortgehen wollte. Also war er über seinen Schatten gesprungen, um alles Mögliche zu tun, das zu verhindern.

Für das, was zwischen ihnen war oder nicht war, fand er keine Worte. Er wusste nur, dass er in dem Minenschacht einen feuchten Dreck auf seine Vorbehalte gegenüber allem gegeben hatte. Vielleicht weil sie in dieser misslichen Situation gewesen waren. Und es hatte ihm gefallen. Es missfiel ihm, sein Herz die Kontrolle übernehmen zu lassen. Und vielleicht – oder ziemlich sicher sogar, würde er es bereuen. Und doch konnte er nicht anders...

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Es vergingen mehrere Minuten, in denen Childe den Brief mit großen Augen anstarrte und immer wieder las. Vor allem über das Wort „Herzlichst" musste er kichern, denn Pulcinella war alles andere als ein herzlicher Mensch, so wie er ihn kannte. Er konnte sich auch gut vorstellen, wie sehr er sich gequält hatte, diese Zeilen zu schreiben und trotz allem freute es umso mehr. Es war zwar knapp formuliert und nicht sonderlich romantisch, aber er hatte ihn sogar „Sein Childe" genannt... Der junge Harbinger drückte den Brief fest an sein Herz und lächelte vor sich hin.

„Wir haben ein Date!!", sprach er seine Gedanken laut aus, obwohl er alleine war, quietschte und strahlte glücklich. Vor allem Eislaufen... wie wundervoll romantisch... Childe sprang auf, um nach seinen Schlittschuhen zu suchen. Hoffentlich hatte er es, in der Zeit in der er in Liyue war, nicht verlernt. Aber wenn doch, umso besser, dann könnte er sich auf Pulcinellas Hilfe bestimmt verlassen...

Er stellte sich alles schon sehr lebhaft vor und hoffte, dass er nicht zu aufgeregt war und überhaupt schlafen konnte. Im Grunde zählte er jetzt schon die Minuten bis zum morgigen Tag...

Ein WintermärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt