Ein unfreiwilliger Ausflug

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Leider war es schon Morgen. Pulcinella wollte eigentlich nicht aufstehen. Im Grunde war er nicht mal wach. Wie groß sein Schlafdefizit war, konnte er nicht sagen. Aber er hatte kaum schlafen können. Eigentlich lag alles auf der Hand. Doch er kam damit nicht zurecht. Für einen Moment wünschte er Childe wieder zurück nach Liyue, dass würde alles einfacher machen. Aber der Gedanke, dass er dort was mit einem anderen Typen hatte, wo er doch anscheinend lieber ihn wollte und noch dazu einen Haufen Mora aus dem Fenster warf, erschien ihm nicht richtig. Seine Gedanken kreisten ziellos umher und er wusste nicht genau, was er mit all dem anfangen sollte. Es machte keinen Sinn. Childe war nicht hier her zurück gekommen um seinetwillen. Was sollte das dann auch von wegen "Oh ich mag dich immer noch"? Wie konnte man außerdem an etwas festhalten, das generell nie existent gewesen war? Und gleich so angefressen reagieren, wegen ein paar kleinen Scherzen... Dramaqueen.

Außerdem war Pulcinella unzufrieden darüber, dass sein Gast ihn gestern Abend einfach hatte stehen lassen. Dabei hatte er noch mit ihm trinken wollen. Schade um den Vodka. Ajax hatte an diesem Abend wohl die meiste Aufmerksamkeit erhalten. Seine ... gottverdammte ... Statue! Er verdrehte die Augen und zog sich an. Das würde er Childe auf dem Feld bereuen lassen.

Als er fertig war, machte er sich mit schnellen Schritten auf den Weg. Dort angekommen fand er jedoch nur seine planlosen Rekruten vor, von Childe war keine Spur.

"Wo ist Childe?", fragte er die Gruppe Soldaten ungehalten.

"Er war vorhin kurz da, Sir. Er sagte, Sie würden gleich zu uns stoßen. Er meinte, er sei heute auf einer Mission", vermeldete einer der Soldaten.

"Danke, Soldat", entgegnete Pulcinella und er musste sich zusammenreißen, nicht auszurasten. Man sah und hörte ihm seine Genervtheit sicher an.

"Trainiert das Gleiche von gestern nochmal. Bei Fragen wendet euch an Capitano."

"Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?", fragte der Soldat überrascht.

"Ja. Aber ich muss etwas in Ordnung bringen", entgegnete Pulcinella und machte auf dem Absatz kehrt.

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Mit schnellen Schritten ging er zur Abenteuergilde. Er konnte sich schon vorstellen, wohin das führte. Die boten in Snezhnaya gutes Geld, aber für teilweise viel zu gefährliche Missionen. Die einfachen Missionen waren eher schlecht bezahlt, aber von den gut bezahlten... kam selten jemand lebend zurück. Keine Rückkehrer, keine Bezahlung. So einfach war das hier. Die Leute in Snezhnaya wussten das, und trotzdem wagten manche das Unmögliche. Früher hatte er ihm die Teilnahme an diesen Missionen verboten, als Harbinger hatte Childe die Sache anscheinend aus den Augen verloren. Doch wer brauchte im Moment Mora mehr als alles andere? Es war also ziemlich naheliegend.

Dort angekommen, fand er auch Childe. Er wollte anscheinend gerade los, mit einigen wenigen Abenteurern.

"Wohin gehst du? Ich brauche dich auf der Arbeit", sagte Pulcinella ernst.

"Ich hol die Schicht nach. Alles gut", entgegnete Childe kopfschüttelnd. Er war offenbar unzufrieden, dass er ihn hier gefunden hatte.

"Wohin ist diese Truppe unterwegs?", fragte er neugierig. Als Childe schwieg, war jedoch ein anderer der Abenteurer so freundlich, ihm zu antworten.

"Wir sind unterwegs zum hohen Pass. Oben, nah beim Gipfel haust der neunköpfige Yeti. Den werden wir aus dem Verkehr ziehen, bevor er eines Tages herunterkommt und uns bedroht", erklärte der Mann. Pulcinella sah ihn mit großen Augen an.

"In dieser Ausrüstung wollt ihr auf den Pass? Alles klar... und ihr wisst schon, dass der neunköpfige Yeti nicht existiert und wahrscheinlich von einem betrunkenen Rekruten erfunden wurde, um bei seinem Vorgesetzten – meine Wenigkeit – Eindruck zu schinden? Und es sich dabei vermutlich um einen gewöhnlichen Frostarm-Lawachurl handelt? Dort oben gibt es weit gefährlichere Sachen als Monster...", warnte Pulcinella die Abenteurer.

"Wir warten noch auf unsere Ausrüstung... Warten Sie... Sir! Oh, Verzeihung, ich habe Sie gar nicht erkannt!", sagte der Mann peinlich berührt, "Ich kenne Sie eigentlich nur mit Maske..."

"Ah... ", entgegnete Pulcinella unbeeindruckt. Es stimmte schon, wenn er geschäftlich in der Hauptstadt unterwegs war, zeigte er eigentlich nicht unbedingt sein Gesicht. Doch gerade war es ihm egal, er wollte nur Childe zurückholen und vor Dummheiten bewahren. Mit einem Kopfschüttelnd beobachtete er wie die Abenteurer tuschelten und ihn anstarrten, so, als wäre er etwas Besonderes. Er wusste schon, warum er lieber mit Maske unterwegs war. Doch das spielte jetzt alles keine Rolle. Unwirsch packte er Childe am Arm.

"Childe, wir gehen", sagte er missmutig und wollte ihn mitziehen. Doch der andere Harbinger setzte sich zur Wehr und zog seinen Arm weg.

"Lass mich los! Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich gehe mit auf diese Mission. Eben habe ich mich eingetragen. Und ich ziehe jetzt garantiert nicht den Schwanz ein!", fauchte Childe.

"Natürlich...", entgegnete Pulcinella und ließ locker, hilflos. So war es immer gewesen. Childe hatte immer riskantere Kämpfe herbeigesehnt. Und er hatte sich jedes Mal Sorgen gemacht, sein Auszubildender würde nicht lebend zurückkommen. Doch damals hatte er noch eine gewisse Kontrolle über ihn gehabt, jetzt konnte er ihn nicht mehr aufhalten. Die Angst, Childe zu verlieren, ließ ihn zittern und er wusste nicht, was das für ein Gefühl war... "Fuck...!", murmelte er und wich zurück. "Weißt du, Childe... Dann geh doch. Mach doch, was du willst. Ich geh dann schon mal ein Loch aus dem Soldatenfriedhof ausheben lassen", kam es wie Eiseskälte über seine Lippen.

Childe schaute ihn mit großen Augen an. Dann legte er den Kopf zurück und lachte.

"Ich werde doch bei sowas nicht drauf gehen...!", sagte er, immer noch lachend.

"Wehe, du kommst nicht zurück. Dann bring ich deine Leiche nochmal um!", entgegnete Pulcinella und wandte sich ab. Es hatte keinen Sinn. Doch ihn jetzt gehen zu lassen, erschien ihm nicht richtig. Die Sorgen fraßen ihn innerlich auf, während er durch den Schnee stapfte. Damals hatte er sich geschworen, aus diesem Grund nie zu sehr an ihm zu hängen. Doch es war zu spät. Natürlich hing er an ihm. So sehr, dass er sich seit seiner verdammten Abreise nach Liyue jeden Tag gewünscht hatte, dass er zu ihm zurück kommen würde. Und jetzt, wo er wieder da war, ihn am liebsten einsperren würde und ihn nie wieder gehen lassen würde, schon gar nicht zu diesem verkommenen Typen, der ihm das Geld aus den Taschen zog. "Verdammte Scheiße!", rief er und trat missmutig in einen Schneehaufen, der in sich zusammenfiel.

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Keine zehn Minuten später stand er wieder bei der Abenteuergilde. Aus dem Augenwinkel beobachtete er die Gruppe Männer, wie sie nun ihre Gebirgsausrüstung anzogen. Gereizt unterzeichnete er eine Erklärung und ging zu den anderen zurück.

"He, was machst du hier-", setzte Childe an und stockte, als er bemerkte, dass Pulcinella sich eine der Ausrüstungen nahm und anzog.

"Denkst du, ich lass ich dich in dein Unglück rennen? Jemand muss dir doch da oben den Arsch retten", entgegnete Pulcinella grinsend.

"Ähm... ist das jetzt dein Ernst? Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst...!", erwiderte Childe, sichtlich beleidigt.

Pulcinella lachte nur. "Ich dachte, du wolltest immer mal ein Abenteuer zusammen mit mir erleben, hm?", sagte er und grinste.

"Ja...", antwortete Childe überrascht, "aber du hast immer "Nein" gesagt... warte, was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?", fügte er nachdenklich hinzu. Pulcinella lächelte ihn nur vielsagend an. Dann zog er sich weiter seine Ausrüstung an.

"So nachdenklich... komm. Lass uns einfach Spaß haben, hm?", entgegnete er, klopfte Childe auf die Schulter und setzte sich gemeinsam mit der Gruppe in Bewegung.

Ein WintermärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt