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Eines Abends kam dann die Nachricht. Die Nachricht, mit der ich schon seit Wochen rechne, aber vor der ich mich schon immer fürchte. Sie kam mitten in der Nacht und hatte mich durch meinen Klingelton geweckt, wäre es lautlos gewesen, wüsste ich nicht wie ich mit den Schuldgefühlen klargekommen wäre. Die Schuldgefühle, ihn dem Tod überlassen zu haben weil ich es schlicht nicht mitbekam.

"Es tut mir Leid Jungkook." Mehr schrieb er nicht. Das war alles. Aber es hatte mir gereicht um herauszufinden, was er mir damit mitzuteilen versuchte. In dieser einen, so ehrlichen Nachricht stecken so viele Emotionen, allein darin, dass mich beim Namen nannte. Ich ahnte wo er sich gerade befand.

Wie in einer klischeehaften Romanze lief ich mitten in der Nacht durch den strömenden Regen, nur will ich nicht zu meiner Geliebten, sondern ich versuche meinen besten Freund zu retten. Vor sich selbst. Mein Gesicht war tränenüberströmt, aber man konnte es ohnehin nicht mehr unterscheiden von all dem Regen, ich war bereits bis auf die Haut durchnässt und meine Füße froren fast am Boden fest. Schließlich trug ich nur dünne Hausschuhe und es war tiefster Winter, fast so kalt, dass es schneien würde.

Wenig später kam ich, vollkommen außer Atem an der Mapo Brücke an. Natürlich hatte ich keinen Beweis, dass er hier sein würde, aber diese Brücke ist am nächsten zu seiner Wohnung und sie ist bekannt für die große Zahl der jährlichen Suizide. Und wie er mir bereits, vermutlich um mich vorzuwarnen, mitteilte, würde er sich nicht durch Tabletten oder ähnliches das Leben nehmen, sondern durch etwas drastisches. Bei seinen Eltern könne er es sich nicht leisten zu überleben, so war sein Wortlaut. Es gab so viele, so offensichtliche Anzeichen, wieso nur konnte ich ihm nicht helfen? Es ist alles meine Schuld.

Und da stand er. Genau mittig auf der Brücke, noch auf dieser Seite am Geländer. Ich erkannte ihn sofort, anhand seines langen, beigen Mantels, den er im Winter immer trug. Auch wenn es nicht gerade konventionelle Mode ist, er stand ihm unglaublich gut. Als er mich sah, schwang er sich gekonnt über das Geländer, aber er sprang nicht. Natürlich rannte ich dennoch auf ihn zu, fast fiel ich zu Boden wegen meiner verschwommenen Sicht, meine Beine waren so eingefroren, dass ich sie kaum noch spürte.

"Taehyung, nein! Bitte, spring nicht!" Schniefend stand ich vor ihm und ergriff ihn bei den Handgelenken, um ihn festzuhalten. Auch wenn meine Hände starr vor Kälte waren und jede Bewegung schmerzte, hielt ich ihn dennoch fest so gut ich konnte.

"Ich kann nicht mehr Jungkook. Ich... Ich weiß einfach keinen anderen Ausweg mehr." Auch seine Augen füllten sich mit Tränen und er begann immer mehr zu zittern, aber ich kann ihn nicht aufgeben.

"Bitte, wir finden eine Lösung! Du kannst mich doch nicht einfach so allein lassen, ich brauche dich! Bitte, komm auf diese Seite des Geländers, für mich!" Ich hoffte ihn damit überzeugen zu können, aber entgegen meiner Erwartungen verdunkelten sich seine Augen ein wenig. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass seine Gefühle vollkommen aufgewühlt waren, oder ob er das schon immer so empfand, aber er redete auf einmal viel kälter mit mir. Seine Stimme zitterte nun genauso sehr wie seine Hände.

"Weißt du eigentlich, wie egoistisch das ist? Mich unbedingt am Leben halten zu wollen, obwohl du weißt, dass ich mir absolut nichts sehnlicher wünsche als einfach endlich allem ein Ende setzen zu können!" In dem Moment überrollte mich eine solche Welle an Schuldgefühlen, dass ich für einen kleinen Moment unachtsam wurde. Nur ein kleiner, winziger Moment der Unachtsamkeit. Nur eine Sekunde, in der meine feste Umklammerung seiner Handgelenke nachließ...

"Es tut mir so unglaublich Leid." Damit machte er sich von mir los, indem er seine Arme mit Schwung nach hinten riss. Er war binnen Sekunden so weit vom Geländer entfernt, dass ich seine Arme nicht mehr zu fassen bekam und er hinab stürzte. Kurz herrschte vollkommene Stille, bis man hören konnte, wie er auf dem Wasser aufschlug. Kein weiteres Geräusch. Keine Anzeichen von einem Überlebenswillen seinerseits. Er muss entweder direkt ohnmächtig geworden sein, was anhand des eisigen Wassers wahrscheinlich ist, oder er spürte seit langem endlich einen solchen Frieden, dass es sich nicht mehr zu kämpfen lohnte.

Kurz beugte ich mich auch über das Geländer, spielte mit dem Gedanken hinterher zu springen, aber ich verwarf diese Idee direkt. Bei der Kälte würden wir nur beide sterben, denn von hier würde ich ihn niemals bis zum Ufer ziehen können und wegen der Dunkelheit muss es unmöglich sein, ihn dort finden zu können. In diesem unendlich groß erscheinenden Meer aus nichts, alles sah vollkommen schwarz aus und Taehyung war bereits Teil davon geworden.

An alles, was danach geschah, erinnere ich mich nur noch verschwommen. Auf der Brücke waren, auch zu der späten Stunde, noch weitere Menschen, die alles mit angesehen haben und auf mich zugelaufen kamen, die riefen die Polizei wegen dem Suizid und einen Krankenwagen für mich, denn ich saß dort vollkommen unterkühlt im Regen, auf dem Boden und war kaum ansprechbar. Natürlich hörte ich, dass Menschen mit mir sprachen und ich verstand sie auch, aber die Worte drangen nicht zu mir durch. Alles was ich hörte war Taehyungs Stimme.

"Es tut mir so unglaublich Leid." Seine letzten Worte.

"Es tut mir so unglaublich Leid." Diese Trauer, aber gleichzeitig unglaubliche Erleichterung in seiner Stimme. Das Zittern.

"Es tut mir so unglaublich Leid." Vor allem sein Gesichtsausdruck. Sein vorher kurzzeitig kalt wirkendes Gesicht wandelte sich zurück in den schuldbewussten Blick, den er mir vorher widmete. Ich habe noch nie so einen starken Ausdruck der Schuld gesehen wie in dieser Sekunde. Es war, als würde er mir sagen "Ich weiß, wie wichtig ich dir bin, aber bitte lass mich endlich gehen. Ich weiß, ich tue dir weh, aber es ist die einzige Lösung.".

Diesen Blick werde ich niemals vergessen können. Aber eins weiß ich, sobald ich bei ihm bin werde ich mich entschuldigen. Ich werde mich dafür entschuldigen, dass ich es ihm so schwer gemacht habe und dass ich ihn dazu bringen wollte, weiter in dieser Hölle zu existieren. Ich werde mich dafür entschuldigen, dass er solche Schuldgefühle hatte, nur weil er unter der Last des Lebens zusammenbrach. Sogar in der Sekunde seinen Todes hat er sich immer noch um mich gesorgt. Er hätte ein so viel schöneres Leben verdient...

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Afterdeath° ~ Jungkook & Taehyung FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt