Kapitel 1

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„Die Katze ist wieder da." Kathi stieß Lucan an, damit der sich von seinem Heft losriss, und erntete ein Brummen.

„Katzen sind hier nichts Ungewöhnliches."

„Die schon. Es ist wieder die Albinokatze." Nun sah Lucan endlich hoch und schaute ebenfalls aus dem Fenster. Die zierliche Katze schlich über die Straße, im leichten Nebel noch gut auszumachen. Einen Moment hielt sie inne, den Körper angespannt, als lauere sie auf ihre Beute. Vielleicht musste gleich wirklich eine Maus dran glauben.

„Oder irgendeine normale weiße Katze." Lucan zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Heft zu, um weiter über Chemie zu brüten. Kathi seufzte.

„Meinetwegen ist es auch einfach nur eine weiße Katze. Aber ehrlich, die seh ich nur bei schlechtem Wetter und Nebel. Welche Katze geht freiwillig in den Regen raus?"

„Stinker." Lucan lächelte schief und Kathi schnaubte. Sie kannte den Kater von Lucans Nachbarn, der nur zum Fressen nach Hause kam und auch dann nicht ins Haus ging. Herr Paulsen stellte ihm seinen Napf immer auf die überdachte Veranda.

„Gut, aber der ist eh komisch. Der hat neulich Frau Martins Chihuahua gejagt."

„Ich weiß. Sie war da und hat sich bei Herrn Paulsen beschwert." Lucan zuckte mit den Schultern. „Er jagt auch größere Hunde. Er weiß eben nicht, dass das eigentlich andersherum läuft." Kathi grinste und sah wieder aus dem Fenster. Die Katze hatte die Straße überquert und wurde nun vom Nebel verschluckt.

„Aber diese weiße Katze hab ich sonst noch nie gesehen. Und wenn sie Freigang hat, dann doch immer."

„Vielleicht ist sie neu und du hast sie deshalb noch nicht so oft gesehen. Oder sie ist ein Streuner und eben nur manchmal hier." Lucan lehnte sich zurück und zuckte wieder mit den Schultern. „Es ist eine Katze. Nicht die einzige, die hier rumläuft. Was ist daran so spannend?"

„Weiß nicht. Irgendwas ist komisch an ihr."

„Erklär mir lieber noch einmal Chemie. Ich weiß echt nicht, warum ich den Kurs gewählt habe."

„Weil Sophie Chemie gewählt hat." Kathi lachte, als Lucan sie gegen den Fuß trat. „Komm schon, frag sie einfach mal, ob ihr ins Kino wollt oder so. Sie beißt nicht. Und ich glaub, sie findet dich süß."

„Du glaubst? Sie ist deine beste Freundin, hätte sie dir das nicht erzählt?"

„Nein. Immerhin bist du auch mein bester Freund. Sie müsste ja fürchten, ich könnte dir davon erzählen." Kathi grinste. „Aber sie schaut doch öfter zu dir rüber. Und sie hat mal erwähnt, dass sie Jungs mit dunklen Haaren mag."

„Ich bin ja auch der einzige mit dunklen Haaren in der Klasse." Lucan rollte mit den Augen und Kathi schnitt ihm eine Grimasse. Er grinste. „Ich lad Sophie ein, wenn du Valentin ansprichst." Kathi schnaubte.

„Der hat eine Freundin."

„Seit wann?"

„Keine Ahnung. Aber ich hab sie neulich am See gesehen. Händchenhaltend. Und geküsst haben sie sich auch noch. Also war das nicht nur irgendeine Freundin." Sie zuckte mit den Schultern. „In der Schule hab ich sie noch nie gesehen, also frag mich nicht, wer es ist."

„Tja, doof." Lucan warf ihr einen Kinderriegel zu. „Aber ich finde ja eh, ihr hättet kein tolles Paar abgegeben. Optisch nicht und auch sonst nicht."

„Mag sein. Aber süß ist er." Kathi legte den Riegel auf den Tisch und schaute noch einmal aus dem Fenster. Der Nebel war dichter geworden, die Laternen vor dem Haus waren nur noch verwaschene helle Flecken. Wenn die Katze immer noch draußen herumschlich, würde sie es nicht mehr sehen. „Okay, Chemie." Sie schob sich mit ihrem Stuhl näher an den Tisch und schaute sich Lucans Heft und die bisher gelösten Aufgaben an.

Als Lucan sich verabschiedete, war es bereits nach Mitternacht. Der Nebel war noch dichter geworden und Kathi lud ihn ein, bei ihr zu übernachten, aber er winkte ab. Immerhin musste er nur eine Straße weiter.

Nach nur drei Schritten hatte der Nebel Lucan komplett verschluckt und Kathi kehrte schaudernd ins Haus zurück. Doch es war nicht die kalte Nachtluft, die sie schaudern ließ, sondern der dichte Nebel. Natürlich war der für den Herbst nichts Ungewöhnliches, aber sie mochte Nebel einfach nicht. Man wusste nie, was darin lauern konnte.

Peinlich berührt von ihren eigenen Gedanken – Himmel, sie war bereits 16 Jahre alt und fürchtete sich vor ein bisschen Nebel – kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Müde war sie noch nicht, daher schaltete sie Netflix ein und suchte sich einen Horrorfilm aus. Grinsend machte sie es sich in ihrem Stuhl bequem.

Nebel machte ihr Angst, aber Geister, Dämonen und verrückte Axtmörder ließen sie kalt. Das war schon etwas schräg. Andererseits konnten manche Ängste eben nicht rational erklärt werden. Lucans Angst vor Schmetterlingen fiel ihr ein. Das war nun wirklich etwas, was sie nicht verstehen konnte, aber sie nahm es hin. Für sie war es albern, für ihn ein realer Horror, so wie für sie der Gedanke an Nebel und das, was in ihm lauerte.

Der Film rauschte an ihr vorbei. Ähnliches hatte sie mit Lucan und Sophie schon zu oft gesehen, sodass es nicht wirklich spannend war, denn das meiste ließ sich vorhersehen. Dennoch war der Film gut, um die Zeit rumzukriegen und endlich ein wenig müde zu werden.

Kurz vor dem Ende stand sie auf, um sich die Zähne zu putzen. Als sie aus dem Fenster sah, stellte sie fest, dass der Nebel sich aufgelöst hatte. Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren dunkel und Wolken verdeckten den Himmel, nur die wenigen Straßenlaternen spendeten noch Licht.

Und an einer dieser Laternen stolzierte gerade die weiße Katze vorbei.

Etwas hatte ihr Fell im Gesicht dunkel verfärbt, vermutlich hatte sie gerade erst eine Maus erwischt. Kathi beobachtete die Katze, während aus ihrem Laptop Schreie drangen. Vermutlich 

wurden die Filmhelden gerade von dem Mörder erwischt.

Die Katze lief weiter und bog schließlich auf eines der Grundstücke ein. Damit entzog sie sich Kathis neugierigen Blicken, denn der Garten lag im Dunkeln und die Büsche boten der Katze einen zusätzlichen Sichtschutz.

Vermutlich hatte Lucan ohnehin Recht und irgendjemand in der Nachbarschaft hatte sich die Katze vor kurzem zugelegt. Immenfelde war nicht groß, aber doch zu groß, um jeden zu kennen und zu wissen, welche Katze nun wirklich zu wem gehörte.

Kathi warf einen Blick auf ihren Laptop, stellte fest, dass der Abspann des Filmes lief, und schaltete Netflix aus. Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte, schlüpfte sie unter ihre Decke und drehte sich zum Fenster. Als sie endlich schlief, geisterte eine weiße Katze durch ihre Träume.

NebelkatzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt