Kapitel 4

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Als sie wieder im Haus ankamen, wollte Kathi Kaffee machen. In der Küche traf sie ihre Mutter, die am Küchentisch saß und irgendwas in ihren Laptop tippte. Eine Tasse stand vor ihr und Kaffeeduft stieg Kathi in die Nase. Lucan und Sophie riefen ihr Grüße vom Flur her rein und gingen dann die Treppe nach oben. Kathis Mutter lächelte leicht.

„Irgendwann muss einer der beiden den anderen endlich mal einladen", meinte sie und Kathi kicherte.

„Ich hab ihnen grad möglichst viel Zeit allein verschafft. Hoffentlich traut Lucan sich bald mal. Bei Sophie wird das nichts." Sie setzte frischen Kaffee auf, da ihre Mutter ihre Kanne vermutlich nicht teilen würde. Sicher arbeitete sie an einem ihrer Aufträge. Als selbstständige Webdesignerin konnte sie sich ihre Arbeitszeit ganz nach Belieben einteilen, was Kathi toll fand. Das wollte sie auch gerne, wenn sie irgendwann mit der Schule fertig war und zu arbeiten begann.

„Rebecka war gerade kurz da."

„Geht ihr heute Abend aus?"

„Nein, sie ist bereits verabredet." Ihre Mutter hielt kurz inne, ihr Blick wurde ernst. „Sie hat mir berichtet, dass Jochen Becker einen Unfall hatte."

„Wir haben vorhin einen Krankenwagen gesehen." Dass sie ihn gesucht hatten, um zu sehen, was wohl passiert war, wollte sie ihrer Mutter lieber nicht sagen. Das klang tatsächlich einfach zu sehr nach Gaffen. Vielleicht hätte sie doch auf Lucans Seite bleiben und nicht nachgeben sollen. „Was ist denn passiert? Geht es ihm gut?" Ihre Mutter betrachtete sie einen Moment mit diesem ernsten Ausdruck in den Augen.

„Nein", antwortete sie schließlich leise. „Er ist die Treppe heruntergestürzt. Dabei hat er sich das Genick gebrochen. Als die Sanitäter eintrafen, konnten sie nichts mehr für ihn tun." Kathis Magen verkrampfte sich. Was ihre Mutter damit meinte, war eindeutig, aber das konnte doch nicht sein. Allerdings würde ihre Mutter keine Scherze über den Tod einer anderen Person machen. „Sarah steht unter Schock. Sie wurde auch ins Krankenhaus eingeliefert. Rebeckas Mitbewohnerin versucht schon die ganze Zeit, Julia zu erreichen."

„Das ist schrecklich." Sie mochte die Beckers. Julia hatte sie manchmal bei sich zu Hause betreut und so hatte Kathi ihre Eltern auch kennengelernt. Jochen Becker hatte ihr einige Brocken Norwegisch beigebracht, noch bevor sie eingeschult wurde. Nur wegen ihm lernte sie die Sprache überhaupt nach der Schule.

„Das ist es. Und so erschreckend, wie schnell es gehen kann." Ihre Mutter seufzte und klappte ihren Laptop zu. „Ich mach eben Mittagessen. Ihr seid versorgt?" Ihr war deutlich anzusehen, dass sie sich bloß ablenken wollte. Kathi nickte.

„Ja, wir haben uns Döner und Pizza geholt."

„Dass euch das überhaupt noch schmeckt." Ihre Mutter schmunzelte und wies auf den Kühlschrank. „Wir haben noch Eis und Till hat Anweisung, Schokoladenkuchen zu kaufen." Kathi machte eine zweifelnde Miene.

„Na, ob Papa daran denkt."

„Ich hab ihm eine Liste mitgegeben. Das klappt immer." Ihre Mutter lachte leise und auch Kathi musste lächeln. Wenn es nicht um Medizin oder Pharmazie ging, war ihr Vater eher vergesslich und verträumt. Einkaufslisten waren bei ihm einfach nötig, sonst vergaß er einfach die Hälfte – oder mehr.

Kathi füllte ihren Kaffee in eine bunte Kanne um und ging nach oben. Lucan und Sophie unterhielten sich gerade über Bücher. So, wie sie nebeneinandersaßen und ihre Handys hielten, tauschten sie wohl auch Lesetipps aus. Beide sahen auf, als Kathi ins Zimmer kam.

„Kaffee!", jubelte Sophie, runzelte dann aber die Stirn. „Was ist los?" Kathi stellte den Kaffee ab und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. Sie zögerte und seufzte leise auf.

„Herr Becker ist tot." Sophies Augen weiteten sich und auch Lucan sah sie überrascht an. „Mama hat es mir gerade gesagt. Sie weiß es von Rebecka."

„Scheiße", murmelte Sophie. „Was ist denn passiert?"

„Er ist die Treppe heruntergestürzt und hat sich das Genick gebrochen." Kathi schluckte. Es auszusprechen war noch schlimmer als es bloß zu hören. Eine Weile herrschte Schweigen. Kathi wusste, dass Julia auch auf Lucan aufgepasst hatte. Manchmal waren sie zeitgleich bei ihr gewesen.

Es war einfach unvorstellbar, dass Herr Becker tot sein sollte. Vorhin hatten sie ihn und seine Frau noch getroffen und jetzt war er tot.

Schließlich packten sie ihr Essen aus und Kathi öffnete ihren Netflixaccount, um einen Film laufen zu lassen. Allerdings lenkte der Gedanke an Herrn Becker sie immer wieder ab. Auch Sophie und Lucan wirkten abgelenkt. Aber immerhin erfuhr man nicht jeden Tag, dass jemand, den man kannte, gestorben war.

Das erste und bisher auch letzte Mal, dass jemand aus ihrem Umfeld gestorben war, war vor fünf Jahren gewesen. Ihre Großmutter hatte eine Hirnblutung erlitten und war bereits tot gewesen, bevor sie bei ihr im Krankenhaus gewesen waren. Kathi hatte sich nicht einmal verabschieden können.

Sie erinnerte sich, dass sie sich nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Nach einer alptraumgeplagten Nacht hatte sie tatsächlich geglaubt, den Tod ihrer Großmutter nur geträumt zu haben. Erst die Mienen ihrer Eltern und deren Gespräch über die bevorstehende Beerdigung hatten ihr klargemacht, dass es kein Traum gewesen war. Außer Lucan wusste niemand davon. Sie hatte es ihren Eltern nicht erzählen wollen, um sie nicht zu beunruhigen.

Herrn Beckers Tod würde sie wohl nicht mehr nur für einen Alptraum halten. Nicht, nachdem sie jetzt auch mit Lucan und Sophie darüber gesprochen hatte.

Kathi versuchte, ihre Gedanken zu verscheuchen, aber so ganz gelingen wollte es ihr nicht. Die Nachricht war einfach zu überraschend, zu erschreckend gewesen. Sie fragte sich, ob es anders wäre, wenn sie Herrn Becker nicht vorhin noch begegnet wäre. Dann wäre es immer noch schrecklich, aber zumindest nicht so unglaublich.

Sie richtete ihren Blick auf den Bildschirm ihres Laptops, aber die Bilder des Films zogen einfach nur an ihr vorbei. Vermutlich würde sie noch eine Weile brauchen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Herr Becker einfach tot war.

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