Kapitel 8

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Der Tag, auf den ich solange hin gefiebert habe, ist endlich da.

Doch ist es jetzt anders. Mich selbst zu finden, was ich will, ist in meinen Gedanken in die Ferne gerutscht. Dieses Mädchen, das immer noch auf meinem Bett liegt und schläft, zerschlägt mir meine Gedanken und stellt alles andere in weite ferne. Ich ziehe mir mein Handy aus meiner Jeans und schaue auf das Display. Sech Uhr in der früh. Die ersten Sonnenstrahlen erhellen das Zimmer und ich sehe in der Dämmerung die Staubkörner im gesamten Zimmer fliegen. Ich schicke Jackson erneut eine Nachricht und erkläre ihm, dass ich heute wieder nicht zu Schule kommen werde. Die Proteste dagegen, die ich schon in meinem Kopf höre, füge ich auch hinzu, dass ich ihm alles später erklären werde und ich Wünsche ihm ganz viel spaß in Los Angeles. Mein Dad schicke ich auch eine kurze Nachricht und daraufhin stelle ich mein Handy auf lautlos und stecke es wieder in die Hosentasche.

Zwei Stunden später ist alles, was noch gefehlt hat im Van und wir auf dem Freeway. Jenny spricht nicht viel. Um genau zu sein, habe ich das Gefühl, dass sie nicht anwesend ist. Gedanklich. Nach dem Aufstehen hat sie mehr als eine Stunde im Badezimmer verbracht und sich direkt danach in den Van begeben und gewartet, bis es dann losging. In mein Navi habe ich Nationalpark eingegeben und den ersten, den es mir ausgespuckt hat, habe ich als meine Route eingestellt. Der Yosemite-Nationalpark ist unser erstes Ziel. Laut Navi brauchen wir knappe fünf Stunden dorthin. Innerlich bin ich total aufgedreht, denn diese Reise ist so lang geplant und doch ungeplant. Es war mir wichtig, keine festen Ziele, keine festen Tage und keine festen Zeitangaben in meinen Trip einzubauen. Denn das ist es, wie ich mir meine Freiheit vorstelle und für die nächsten sechs Wochen soll es auch so bleiben. »Hey Jenny« versuche ich so fröhlich wie nur möglich ein Gespräch anzufangen. »Hast du schon gesehen, wo unser erstes Ziel hingeht?«

Sie blickt kurz auf das Navi und zuckt anteilslos mit den Schultern. »Kenn ich nicht. Noch nie gehört.«

»Kannst gern mein Handy nehmen und googeln, wenn du Lust hast.«

»Nee, lass mal. Wenn ich bei der Fahrt auf ein Display starre, wird mir nur schlecht.«, erwidert sie.

Die restliche Zeit schweigen wir meistens. Sie antwortet auf meine Fragen, aber zeigt keinerlei Interesse an mir noch an der Reise. Sie redet nur, wenn sie muss. Irgendwann gebe ich es auf und wir schweigen uns bis zur Ankunft an.

Ich werde einfach nicht schlau aus ihr. Noch vor wenigen Wochen, bei der Party, war sie offen, redegewandt und fröhlich. Was ist mit ihr passiert? Oder war es das Kokain und sie ist eigentlich immer so wie jetzt. Ich bin überfordert. Überfordert von dem, was ich von alldem halten soll. Ich muss es schaffen, dass sie redet. Denn dieser Zustand kann weder normal noch gesund sein. So habe ich sie nicht in Erinnerung.

Kurz nach vierzehn Uhr erreichen wir den Nationalpark. Vom Osten aus sehen wir als Erstes die Tuolumne Meadows. Total überwältigt von dem Anblick und gleichzeitig erschöpft von der Fahrt stelle ich meinen Van ab und steige aus. Ich halte kurz inne, atme tief durch und lasse die große Wildblumenwiese auf mich wirken. Zigtausend Farben von verschieden Blumen wachsen auf einer Hochebene über eine große Fläche. Dieses Farbenspiel ist atemberaubend. Inmitten der vielen Wildblumen verläuft ein kleiner Fluss, der so schmal ist, dass man problemlos drüber springen kann. Das Wasser ist kristallklar und reflektiert all die Farben der Blumen. Ich sehe in den Van. Jenny ist auch ausgestiegen. Mit großen Augen blickt sie sich ebenfalls um. Es scheint als wären ihre grünen Augen weniger blass wie vor einigen Stunden. Mit dem Blick auf sie gerichtet lächle ich. Hier und jetzt denke ich, dass ich es schaffen werde, ihr Herz zu zu flicken. Was auch immer es sein mag, das ihr Herz gebrochen ist.

Da ich mich frühzeitig um meine Wildnis-Genehmigung gekümmert habe, beschließen wir gleich an diesem Platz unser Zelt aufzuschlagen. Nahe eines Wanderweges, dennoch geschützt von Nadelbäumen breite ich unser Zelt aus. Mit dem Blick auf die Blumenwiese. Am Horizont steht die Sonne tief und wirft über den gesamten Platz eine orange-rote Farbe. Reflektiert von dem Wasser inmitten der Blumen lässt mich einige Sekunden innehalten und einfach genießen. Das alles hier zeigt mir, dass all meine Entscheidungen richtig waren. Auch dass Jenny bei mir ist, ist richtig. Das weiß ich. Spüre es. Wenn ich sie ansehe, diese Augen, die nach Hilfe schreien.

Hold Me- Bewahre mich davorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt