Kapitel 15

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Leicht verstört von dem Inhalt des Textes schmeiße ich mein Handy neben mich auf eins der Kissen. Stützend begrabe ich meine Hände in mein Gesicht und reibe mir übers Gesicht. Mein Kopf ist voll. Überfüllt mit Informationen von dem ich niemals geglaubt habe, sie je wissen zu müssen. Jenny sollte mit mir reden. Ich denke, es wäre für uns beide nur von Vorteil. So wie ich das aus dem Text raus lesen konnte, ist der psychische Part nichts, was man alleine bewältigen kann. Ich muss sie suchen. Sie zurückholen. Von mir aus fahren wir noch einmal zurück zum Yosemite und beginnen den Entzug von vorne. Wie konnte ich sie da nur sitzen lassen!

Die Veranda Stufen knarren. Als ich mein Gesicht aus meinen Händen löse, blicke ich in das von Jenny. Sie steht oben auf der letzten Stufe und sieht mich eindringlich an. Ich war so in Gedanken, dass ich nicht mitbekommen habe, wie sie herkam. Mein Blick bleibt an ihrem hängen. Irgendwie kann ich ihn nicht deuten. Ihre Augen sind rot und aufgequollen. Bevor ich was sagen kann, auch wenn ich nicht weiß was ich überhaupt sagen soll, läuft sie auf mich zu und setzt sich neben mich. Irritiert sehe ich über meine Schulter, um sie ansehen zu können.

Was hat sie vor?

Wortlos spreizt sie ihre Finger. In ihrer Handfläche kommt ein kleines Knöllchen aus Alufolie zum Vorschein. Es ist winzig und sieht aus, als wäre es achtlos zusammengeknüllt. Als ich realisiere, was das sein muss, ändere ich meine Sitzposition. Drehe meinen Körper in ihre Richtung und sehe sie erwartungsvoll an.

Mit klopfendem Herzen bete ich innerlich das der Inhalt noch in der Folie ist.

Behutsam und mit dem besten Fingerspitzengefühl öffnet sie die Alufolie. Sie scheint genau zu wissen, an welchen Ecken sie ziehen muss, ohne den gesamten Inhalt zu verschütten. Mit einem mulmigen Gefühl beobachte ich sie dabei.

Will sie das Zeug jetzt hier vor mir nehmen? Verdammt! Was hat sie vor?

Lautlose Tränen laufen ihr über die Wangen. Laufen an ihrem Kinn zusammen und tropfen auf ihre nackten Oberschenkel.

Ein bräunliches Pulver kommt zum Vorschein, als die Folie sorgfältig aufgeklappt ist. Mit zusammen gepressten Lippen und angespanntem Kiefer halte ich den Atem an. Am liebsten würde ich es ihr aus der Hand schlagen!

FUCK! Was wird das?

Mit einer zu schnellen Drehung, die ich nicht kommen gesehen habe, landet der Inhalt samt der Folie auf dem Boden der Veranda. Sie schwingt ihren Fuß über das Pulver und reibt einige Male energisch drüber, bis auch der letzte Krümel in die Rillen der Holzbretter eingesickert ist.

»Noch nie in meinem Leben...«, beginnt sie mit kratziger Stimme. »...hat sich jemand so sehr darüber aufgeregt, was ich tue oder wie es mir geht. NIEMALS!«

Noch geschockt, aber auch erleichtert über das, was sie eben mit dem Zeug gemacht hat, atme ich tief aus.

»Ich konnte die Enttäuschung in deinem Gesicht sehen. Den Schock als du nicht begreifen konntest, warum ich hier gelandet bin.«

Aus ihren lautlosen Tränen wird ein Schluchzen, das sie krampfhaft versucht zu unterdrücken. Bei ihrem Anblick trocknet meine Kehle aus und die Worte, die sie sagt, lassen mich hart schlucken. Sie sieht unendlich müde aus, müde von dem Kampf, den sie Tag für Tag mit sich selber führt.

»Dieser Augenblick war wie ein Weckruf für mich. Nate... du hast mir gezeigt, was es heißt, zu kämpfen. Das habe ich schon vor langer Zeit aufgegeben. Denn in meinem Leben gibt es niemanden, für den es sich zu kämpfen lohnt. Nicht mehr.«

»Ich habe dich einfach sitzen lassen! Das war doch nicht kämpfen!«, erwidere ich leise, mehr zu mir selbst als an sie gerichtet.

»Doch Nate! Das war dein Kampf um mich. Die Angst in deinem Gesicht und auch die Enttäuschung, das galt alles für mich. Bis jetzt war in meinem Umfeld immer jedem egal, was ich mache oder wo ich bin. Mit wem ich mich abgebe oder in welchen Kreisen ich mich bis in die tiefste Nacht rumtreibe. Klar! Als ich noch zwölf oder vierzehn war, hab ich es gefeiert so frei zu sein. In der Schule wurde ich von den Mitschülern beneidet deshalb.«

Sie macht eine längere Pause und ihr Blick ist auf die Teelichter neben sich gerichtet, von denen mittlerweile fast alle bis auf zwei ausgebrannt sind. Sie scheint im Moment weit entfernt von hier zu sein, mit den Gedanken an dem Ort von dem sie erzählt. Ich unterbreche sie nicht. Gespannt warte ich ab, bis sie bereit ist, weiter zu sprechen.

Mit starrem Blick in die Ferne redet sie weiter: »Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen.« Total angespannt und konzentriert darauf so unsichtbar wie möglich zu sein, um sie nicht vom Reden abzuhalten höre ich zu. Mein Atem geht stoßweise. Mein Puls pocht in einem schnellen Rhythmus.

Ich kann kaum glauben, dass sie redet!

»Mal wieder habe ich die Wohnung fluchtartig verlassen, um dem Elend da drinnen zu entkommen. Ich mein eigentlich hätte es mir egal sein können, schließlich sind sie nichts für mich gewesen. Nur Pflegeeltern die ein Haufen Kinder aufnehmen, um an die Kohle vom Staat zu kommen. Sonst nichts! Aber Sie war noch drinnen! Ich hatte ihr versprochen die Nacht bei ihr zu bleiben um sie beschützen zu können...«

Geschockt von dem, was sie eben gedankenverloren in die Nacht sagt, kann ich nicht glauben, dass sie es vor sich sieht, als würde es gerade jetzt passieren. Sie zittert am gesamten Körper. Ihre Hände umklammern ihre Oberschenkel, um zu verhindern, dass ich sehe das sie zittern. Als ich bemerke, dass aus ihrem Oberschenkel dicke und dunkle Blutstropfen tropfen, lege ich behutsam meine Hände auf ihre. Sie zuckt zusammen, als wäre sie aus dem Schlaf gerissen worden. Sofort entspannen sich ihre Finger und sie hört auf, ihre Nägel in ihr Fleisch zu bohren. Eilig werfe ich ihr die Decke über die Schulter, die neben mir auf der Schaukel liegt. Ich kann mir sie so nicht ansehen. Geschweige denn weiter zuhören.

»Wer ist sie?« Bekomme ich fast tonlos aus meiner Kehle, die sich anfühlt, als würde sie aus Staub bestehen. Jenny scheint es aber gehört zu haben, denn sie wendet ihren Blick zu mir. Noch immer halte ich ihre Hand in meiner, weshalb wir uns so nahe sind, das ich ihren Atem in meinem Gesicht spüren kann.

»Lilly. Sie war vier.« Wieder wandert ihr Blick in die Ferne und ihr Gesicht verzehrt sich zu einem schmerzerfüllten Ausdruck, der meinen Atem stocken lässt.

»Weißt du, mache Dinge versteht man einfach nicht in diesem Alter. Man denkt es ist normal und akzeptiert sie, auch wenn man tief im Inneren weiß, dass es nicht normal ist. Ich bin damals da durchgegangen und heute weiß ich, dass alles, was damals passiert ist, nicht richtig war.

Und ja... Lilly. Ich hab ihr was versprochen...«

Sie schlägt die Hände vor ihr Gesicht und beginnt schmerzerfüllt zu weinen.

»... für sie da zu sein und habe sie im Stich gelassen. Es tut mir leid kleine Lilie«, fügt sie laut schluchzend hervor.

Ich denke, der letzte Satz galt ihr und nicht mir. Denn sie spricht es mit voller Reue und Verzweiflung aus. Ich rutsche noch näher an sie ran und nehme vorsichtig ihre Hände aus ihrem Gesicht. Behutsam halte ich ihren Kopf fest. Mit meinen Daumen die an ihren Wangen ruhen wische ich ihre Tränen weg. Ich sehe ihr tief in die Augen, sehe sie nur an. Ohne ein einziges Wort. Langsam beruhigt sie sich. Sie erwidert meinen Blick und legt ihre Stirn gegen meine. So nah bei ihr das beinahe unsere Lippen sich berühren. Nach einem tiefen Atemzug sagt sie: »Ohne dich Nate, wäre ich jetzt tot, denn das eben wäre mein Goldener Schuss gewesen!«

Hold Me- Bewahre mich davorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt