Kapitel 12

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Ich muss mich beeilen, um noch rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Als letztes haste ich in den Raum, die Tür schlägt leise hinter mir zu.
Obwohl es schon nach acht Uhr ist, ist keine Spur von unserer Lehrerin zu sehen. Durch ein Fenster weiter hinten flutet gleißendes Sonnenlicht den Raum, so sehr, dass es fast schon diesig wirkt. In der Ecke stehen Julia und Sophie und ich kann ihre Unterhaltung ohne Probleme mitverfolgen.

"Charlie ist gerade gekommen! Ich dachte schon, sie würde sich verspäten", sagt Julia.
Irgendetwas in mir verkrampft sich und ich habe den Drang, abzuhauen. Ich öffne die Tür hinter mir und trete in den Hof hinaus.
Um mich herum sitzen Massen von Schülern und Lehrern auf den Bänken und sie alle schauen zu mir. Ich laufe los, um so schnell wie möglich hier weg zu kommen. Ich könnte mich einfach in einer Toilette einschließen und abwarten.

"Guck mal, die da vorne kann trotz ihrer kurzen Haare so unglaublich weiblich und schön aussehen!"
"Findest du? Sie ist irgendwie komisch. Zu weiblich für einen Jungen und zu männlich für ein Mädchen."

In der Zwischenzeit habe ich die Türen erreicht. Aber welche soll ich nehmen? Gehetzt schießt mein Blick hin und her, bis ich schließlich wahllos eine Tür aufstoße, die der Männertoilette.
"Ich denke, du bist im falschen Raum, Süße!", schreien mir die Leute von allen Seiten zu. Die Rufe verschwimmen mit dem Lachen zu einer anschwellenden Masse, die sich immer schriller in mein Gehör brennt. Mein Schädel fängt an zu pochen, alles dreht sich und ich muss verzweifelt meine Hand nach dem Waschbecken ausstrecken, um nach Halt zu suchen. Doch sobald ich mich von der Tür löse, breche ich zusammen und lande unsanft auf den harten Fliesen unter mir.

Vollkommen müde und hauptsächlich genervt rapple ich mich schließlich auf und lehne mich an mein Bett. Ich muss den Wecker beim lächerlichen Versuch ihn im Halbschlaf auszuschalten versehentlich von der Ablage gefegt haben. Also habe ich mich nach ihm ausgestreckt und bin selber auch auf den Boden gefallen. Was für ein toller Start in den Tag.
Ich habe ein Gefühl, als wäre etwas schlimmes passiert, aber ich weiß nicht, was. Vielleicht habe ich einfach schlecht geträumt.

Zu allem Überfluss sind alle meine Hoodies in der Wäsche und so muss ich die taillierte Jacke anziehen, damit mir warm genug ist. Ich fühle mich fürchterlich unwohl und erwische mich mehrfach dabei, wie ich unbewusst auf meinen Brüsten herumdrücke oder meine Arme vor ihnen verschränke.

Möglichst schnell mache ich mich fertig, um dann direkt das Haus zu verlassen.
Letzten Endes bin ich viel zu früh, sogar obwohl ich verschlafen habe.

Hinter den Häusern färbt sich der Himmel erst langsam in einem kalten lila. Mein Atem bildet kleine Wölkchen, während ich den Bürgersteig entlang fahre. Es ist so schön und friedlich, aber innerlich herrscht ein reinstes Chaos. Irgendwie fühlt sich alles falsch an - ich fühle mich weder weiblich noch geschlechtslos. Vielleicht kann ich es einfach nicht einordnen.
Es ist noch so früh am Morgen, dass die Sonne nicht einmal richtig aufgegangen ist und ich bin dementsprechend ziemlich müde. Anstatt noch eine kleine Runde zu drehen, setze ich mich allerdings auf eine der Bänke vor der Schule und warte ab, bis es zum ersten mal läutet.

Im Chemieunterricht höre ich kaum zu und starre mehr durch die Tafel hindurch, als auf die angeschriebenen Formeln. Meine Gedanken kreisen durchgehend um mein Geschlecht, obwohl ich versuche nicht darüber nachzudenken.
Irgendwie wäre ich zufrieden, wenn mich jemand als einen Jungen bezeichnen würde. Tief in mir drin ist es richtig, aber eigentlich kann das doch nicht sein. Immerhin bin ich girlflux und nie männlich. Bestimmt habe ich einfach nur Hormonschwankungen.
Von Hormonen, die ich nicht haben sollte! Ich will kein Östrogen, keine Gestagene, sondern Androgene wie Testosteron...

"Alles okay, Charlie?", fragt Sophie mich leise und klingt dabei ehrlich besorgt. Ich nicke nur und versuche, irgendwie glücklich und selbstbewusst auszusehen, aber dabei weiterhin meine Oberweite zu verdecken. Ich senke meinen Blick etwas, um der Lehrerin nicht zu sehr in die Augen zu schauen.
Dabei fällt mein Blick auf den Tisch in der Reihe vor uns, an dem Niklas sitzt und etwas in seinen Block kritzelt. Er beugt sich so weit über das Papier, dass ich erst nichts erkennen kann, doch dann bewegt er seinen linken Arm und gibt mir so unbewusst den Blick frei. Ich bin überrascht, von dem, was ich sehe. Es sind keine Notizen, sondern eine extrem gute Zeichnung. Von... Louis?

"Was guckst du?", fragt Sophie mich plötzlich.
"Was?", frage ich zurück. "Ich hab nur nachgedacht."
Sie zieht ungläubig die Augenbrauen hoch.
"Komm schon, du denkst doch nur über deine Freundin nach, nicht wahr? Ist irgendetwas passiert?"
Mit einem teils abwehrenden und teils schockierten Kopfschütteln räume ich ihren Verdacht aus dem Weg und erkläre dann, dass alles gut ist. Was im Grunde stimmt, denn zwischen mir und Freya läuft es super, wir haben auch schon unser nächstes Date vereinbart.

Nur kenne ich mich selbst nicht mehr. Wenn mein Geschlecht sich ändert - was ja der Fall ist - und ich dabei verschiedene Gender habe, bin ich ja genderfluid, das ist mein richtiges Label. Oder besser gesagt, es sollte mein Label sein, denn die Definition passt. Andererseits fühlt es sich so falsch an, nur kenne ich keinen besseren Begriff, außer vielleicht einfach nonbinary. Warum kann ich nicht einfach weiblich sein? Oder ein komplett binärer und statischer trans Junge. Falls man das so sagen kann. Ich könnte eine Transition machen und dann für immer glücklich leben... Wenn es denn so einfach wäre.

Unauffällig linse ich wieder zu Niklas herüber, doch seine Schulter versperrt mir inzwischen die Sicht. Entweder habe ich mich verguckt und er hat gar nicht Louis gezeichnet, oder ich blicke gar nicht mehr durch, wie generell in meinem ganzen Leben.
Warum sollte er auch Louis malen?
Vermutlich zeichnet er einfach irgendwen und es sah zufälligerweise so ähnlich aus wie Louis.

It's not a Phase (girl×enby)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt