Ende oder Anfang?

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50 Tage später

Es waren jetzt weitere fünfzig Tage vergangen, seit dem May angefangen hatte in meinem Kopf zu schreien. Sie redete nicht und war weiterhin nur ein Gefühl, aber wenn ich starke, negative Gefühle Empfand, tauchte sie in meinem Kopf auf, wie eine verzehrte Erinerung, und fing an zu weinen. Wegen mir. Also versuchte ich nicht zu fühlen, um sie nicht aufzuregen.

Ich kauerte in einer Ecke, die Hände am Kopf, die Augen geschlossen. Ich sah wieder May, den Altar, die Schmetterlinge auf den Laternen, ihre Seele, meine Tränen. Die Trauer übermannte mich, doch die mit Schaumstoff abgedichtete Wand schluckte meinen Schrei einfach und lies mich weiterhin im Stillen zurück. Doch May's Schreie und ihr weinen hallte in meinem Kopf wieder wie ein Echo. Ich schlug den Kopf gegen den Glasteil der Wand. Wieder und wieder. Doch die Gedanken und Bilder ließen sich nicht aus meinem Kopf verbannen.

Vor fünfzig Tagen hatte ich mein Versprechen gebrochen, seit fünftzig Tagen konnte ich sie nicht mehr beschützen. Seit fünfzig Tagen Folter traf es auch sie! Seit fünfzig Tagen versuchte ich die Schmerzen abzuwenden, seit fünfzig Tagen...

"Es tut mir so leid! Du brauchst doch nicht weinen May, ich, ich versuche es doch, dir kann doch nichts mehr passieren. Ich bin jetzt stark, kann dich doch beschützen!", weinte ich. Doch diese Sätze brachten nichts, da ich selbst nicht dran glaubte.

Ich war NICHT stark. Ich konnte sie NICHT beschützen. Ich schluchtzte und wimmerte, atmete schwer und versuchte mich zu beruhigen, nicht an die Wahrheit zu denken!

Ich konnte sie nicht beschützen, ich konnte sie NICHT beschützen! Aber warum? Warum?, brannte es in meinem Kopf.

"Hör auf!", schrie ich mich selbst an. Ich durfte nicht so weinen, es machte May traurig und sie würde noch mehr schreien. May's Bild in meinem Kopf verwischte, als hätte man mit der Hand über  noch nasse Wasserfarbe gestrichen. Dann verschwand es aus meinem Kopf und es war als würde sie mir über die Haare streicheln, mich wieder einmal beruhigen wollen. Ich atmete schwer und keuchent ein und aus.

Bald bist du aus dieser Stille raus und dann wird es besser, flüsterte ich mir in Gedanken selbst zu. Wird es das? Wird es besser werden? Seit langer Zeit dachte ich an meine Freunde. Ob sie mich wohl vermissten? Ob sie mich suchten? Was war aus Kathi und David geworden? War Kathi traurig? War er traurig? War er jetzt ganz allein? Würde ich sie alle irgentwann wieder sehen oder erst im Tod?

Die stumpfe Glascheibe, in der man sich nicht spiegeln konnte, erzitterte. Einmal. Zweimal. Ich legte meine Hand an die Scheibe. Das Zittern machte kein Geräusch. Es war immer noch unlaublich still. Plötzlich flog die Tür des grauen Raumes auf. ein Mann in dicker, schwarzer Uniform stürmte herein. Er trug eine Waffe im Anschlag. Er rannte in die Mitte des Raumes und schaute sich hektisch im um. Er sah auf den Stuhl und die Foltergeräte und als er merkte wofür sie gut waren, wandelte sich der Ausdruck in seinen Augen. Er schaute als wäre im leicht schlecht.

Und dann, dann sah er mich. Er zuckte leicht zurück und Entsetzten sprang in sein Gesicht. Ich wusste wie das aussehen musste. Ein Mädchen, ganz dünn und voller Blut, die Hand immer noch gegen die Scheibe gedrückt. Doch als er mich genauer betrachtete, minderte sich das Entsetzten nicht, nein, es wurde noch stärker! Sah ich so schlimm aus? Ich sah ihm in die Augen und spürte immer noch die Tränen in meinem Gesicht. Der große Mann starrte zurück. Dann, ganz langsam, lies er die Waffe sinken und kam auf die Scheibe zu. Er kniete sich davor nieder, legte die große Waffe auf den Boden und zog die schwarzen Handschuhe aus.

Er tat etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Seine etwas längeren schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht, als er langsam die Hand hob und sie ebenfalls auf die Scheibe legte, dort wo meine Hand auf der anderen Seite das Glas berührte. Und dann, lächelte er mich an.

Ich starrte den Mann ausdruckslos ins Gesicht. Was sollte ich jetzt tun? Er hörte nicht auf zu lächeln. Es war zwar immer noch ein Rest Entsezten in seinen Augen, aber er sah mich weiterhin freundlich an. Ich blinzelte und lächelte dann leicht zurück. Ich hatte schon lange nicht mehr gelächelt. Etwas in mir regte sich. Erst jetzt begriff ich was das bedeutete. Ein Mann, ein fremder Mann war hier und lächelte mich an. Er sah ein wenig wie ein Polizist aus, vielleicht eine Spezialeinheit? Und wieder begriff ich. Er würde mich befreien! I-ich wäre f-frei?

Der schwarzhaarige Mann hatte wohl etwas gehört, denn er drehte den Kopf und rief etwas. Anscheinend unterhielt er sich mit jemanden, er fing nämlich an zu nicken, rief noch etwas und stand dann auf. Ich zuckte zurück und wich an die Wand. Hatte ich mich geirrt? Was würde er jetzt tun? Würde er einfach wieder gehen? Nein, nein ich wollte nicht hier bleiben! Tränen rannen mir jetzt wieder übers Gesicht und ich sah dem Mann ängstlich zu, wie er die Waffe aufhob, sie sicherte und dann zur Tür ging. Zur Tür die in meinen Raum führte. Etwas klickte und erneut durchbrach das Geräusch die Stille. Der Mann mit der Waffe erschien in der Tür. Er kam zwei Schritte auf mich zu und streckte dann die Hand nach mir aus.

"Komm.", sagte er.

Komm? Was bedeut-e-te da...meine Gedanken überschlugen sich. Er wollte mich mitnehmen! Ich streckte ebenfalls meine Hand nach ihm aus und wollte ausstehen, doch meine Beine gehorchten nicht. Ich wolte etwas sagen, doch kein Wort kam aus meinem Mund und so sah ihn nur flehend an.

"Ich bin Flo. Darf ich dich berühren?", fragte er sanft. Ich nickte nur. Es wurde mir grade alles zu viel. Ich würde, ich würde nach Hause gehen! Nach, nach zweihundertfünzig Tagen! Zweihundertfünfzig.. Flo hob mich hoch und trug mich aus dem Raum. Einfach, einfach raus. Er ging durch einen kleinen Flur, bog um eine Ecke und wir landeten an der Eingangstür.

"Hast du sie, Flo?", ein zweiter Mann kamm in den Flur und erschreckte ebenfalls als er mich sah. Er wirkte etwas verwirrt und seinen blonden Haare hingen im wirr in den Augen.

"Ja, ich bring sie ins Krankenhaus, sie muss behandelt werden.", antwortete Flo und schob mich auf seinen Armen etwas höher.

"Ja, ja ist gut. Ich hab schon jemanden gerufen der ihn und mich abholt, also ist alles geregelt.", der leicht verwirrte Mann fuhr sich durch die Haare und blinzelte.

"Phil, es ist alles in Ordnung. Du hast nichts falsch gemacht. Ich geh jetzt, ja?", er schaute ihm fest in die Augen und Phil nickte. Ich bekamm die Unterhaltung nur halb mit, meine Gedanken rasten immer noch. Der schwarzhaarige Mann betratt nun das alte, verfallene Treppenhaus und ich schaute über seine Schulter zurück. Das Blut rauschte in meinen Ohren und schwärze schlich sich in meinen Blick.

War es jetzt das Ende oder ein neuer Anfang?

Mit gebrochenen FlügelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt