Enthüllung

156 5 1
                                    


Sie gingen über Deck in Richtung des riesigen Kajütenaufbaus am Heckende. Während die Mannschaft unter Deck ihre Ruheräume hatte, war dies der Bereich des Kapitäns und seiner Gäste, wie Herr Dallgruber ihm erklärte. Malte nickte dazu ganz so, als ob er das alles schon lange wusste. Carl nahm die Informationen eher beiläufig auf, war er doch darin vertieft, das Unwirkliche der Situation ganz aufzusaugen. Links und rechts sprühte die Gischt an Deck und das Schiff legte sich kraftvoll mit geblähten Segeln ins Wasser, schob sich wieder nach oben und glitt sodann zurück. Die Männer an Deck gingen allesamt mit ruhiger Entschlossenheit an ihr Werk, zogen dicke Taue in die richtige Position, gaben Kommandos, bestätigten diese wiederum oder kletterten in der Takelage. Vor dem Kajütenaufbau lagen zwei Treppen, die nach oben führten. Die eine strebte aufs Dach der hausähnlichen Konstruktion, wo Carl einen Mann mit schwarzem Bart an einem wagenradgroßen Ruder hantieren sah. "Ist das... ist das der Kapitän?" Seine Frage war an Herrn Dallgruber gerichtet, doch Malte kam ihm zuvor: "Nein - natürlich nicht! Das ist nur der Steuermann! Wir müssen die andere Treppe hoch! Komm!" Er zog ihn am Ärmel seines abgewetzten Leinenhemdes. Der Hausmeister grinste wieder. "Immer voller Eifer, der gute Malte! Hat sich aber auch wacker geschlagen heute, das muss man sagen! Ich schulde dir Dank, mein Bester!" Er klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Carl sah, wie Malte errötete und freudig nickte. Dann streckte Herr Dallgruber die Hand aus und wies nach oben zur Kajüte des Kapitäns, vor dessen Tür noch ein kleiner Balkon angebracht war. "Nach dir, Malte!" Der Sohn des Bäckers murmelte einen Dank und erklomm die steil nach oben führende Treppe. "Jetzt du!" Carl fühlte sich von Herrn Dallgruber nach oben geschoben und betrat nach Malte den Balkon vor der Tür, die zum Herrn des Schiffes führte. Herr Dallgruber kam gleich darauf und mit federndem Schritt hinterher, während Malte noch immer schwer schnaufte, was ihm einen spöttischen Blick des Älteren eintrug. Der Hausmeister trat vor und klopfte dreimal kräftig an die Tür. Während sie warteten, schweifte Carls Blick über das nunmehr weit unter ihnen schäumende blaugraue Meer. In der Ferne, zu seiner Linken, gewahrte er die bereits erstaunlich weit entfernte Küstenlinie mit ihren zerklüfteten Steilklippen; über ihnen kreischten Möwen, dies wohl in der Hoffnung, irgendwie an Nahrungsreste von Bord dieses Schiffes zu gelangen. Die vom Salzwasser grau gegerbte Tür öffnete sich quietschend. Im Eingang stand ein kleiner Mann mit zusammengekniffenen Mundwinkeln und musterte sie aus misstrauischen Augen. "Was ist Euer Begehr, Mijnheer van der Daal?" Carl blickte fragend. Herr Dallgruber antwortete mit ausgesuchter Freundlichkeit, dabei das Mürrische in seinem Gegenüber ignorierend: "Wir möchten Einlass, um dem Kapitän unsere Aufwartung zu machen und Dank abzustatten. Außerdem...", fügte er schnell hinzu, als er merkte, dass seine erste Antwort den kleinwüchsigen Mann nicht zufriedenstellte, "... außerdem bringen wir jemanden mit, auf den der Herr des Schiffes schon eine Weile gewartet hat!" Die Augen des Mürrischen fielen erst auf Malte und huschten dann mindestens genauso schnell wie die des Hausmeisters zu Carl und blieben dort ein ganzes Weilchen ruhen. Dann wandte er sich abrupt um und winkte ihnen zu folgen. Sie betraten den Vorraum. Carl war der letzte und beschloss, die Tür hinter sich zu schließen. Das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen verstummten schlagartig, ganz so, als hätte jemand die ganze Szenerie in Watte gepackt und sie sodann in einem Koffer gesteckt. Im Vorraum brannte eine kleine Schiffslaterne und hüllte alles in ein sanftes Dämmerlicht, obgleich draußen helllichter Tag war.

Sie folgten dem kleinen Mann durch eine weitere Tür und betraten einen taghellen Raum, der eher einem kleinen Saal glich und von oben bis unten mit Büchern und Schriftrollen vollgestopft war. In der Mitte, auf einer Erhöhung direkt vor den großen Heckfenstern, die das gleißende Licht von draußen nahezu ungefiltert einließen, stand ein schwerer Schreibtisch, auf dem sich Navigationsinstrumente und Seekarten stapelten. Von diesem abgewandt, den Blick aus dem Fenster auf das schäumende Heckwasser gerichtet, stand ein hochgewachsener Mann, beide Hände auf dem Rücken verschränkt. Nichts an seiner Haltung verriet, dass er sie wahrgenommen hatte oder sich ihrer Anwesenheit bewusst war. Doch unvermittelt, ohne sich umzudrehen, hob er zu sprechen an. "Ich könnte stundenlang hier stehen und auf das aufgewühlte Wasser unter mir schauen! Es gibt einem das Gefühl von Bewegung und Veränderung - und ist doch so vertraut und gleichförmig! Aber...", er drehte sich um und lächelte sie freundlich unter einem buschigen graumelierten Schnauzbart an, "... Ihr seid nicht hier, um den wunderlichen Gedankengängen eines vor der Zeit senil gewordenen Mannes zu lauschen, bester Mijnheer van der Daal!" Er verließ die Empore vor den Fenstern und trat auf sie zu. Dann umarmte er Herrn Dallgruber mit breitem Lachen. "Seid mir willkommen, alter Freund! Ich bin gespannt, welche Kunde Ihr bringt. Jedenfalls freue ich mich, dass alles so geklappt hat, wie wir uns das dachten!" Seine Blicke schweiften Malte und bedachten ihn mit einem freundlichen Nicken; dann suchten sie die Augen von Carl, der verlegen und unsicher von einem Fuß auf den anderen trat. "Ihr seid der angekündigte... Charles, richtig? Auch Ihr seid mir willkommen!" Er fasste ihn mit beiden Armen an den Schultern und blickte ihn so prüfend an, dass es Carl durch Mark und Bein ging. Dabei lächelte er jedoch so wohlwollend, dass die Ängste des jungen Mannes wieder in den Hintergrund traten. "Ihr seid gewiss hungrig und durstig, werte Herren? Erlaubt mir, dass ich Euch hier etwas bewirte und Ihr sodann meine Gäste für die Dauer unserer Fahrt seid. Pambroke?" Der kleine Mann, der sich unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, trat geflissentlich auf den Kapitän zu. Sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt ergeben und respektvoll. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nickte er und ging schnellen Schrittes fort. Der Herr des Schiffes bat zu einer kleinen Sitzecke und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Er selbst nahm eine dunkle Flasche aus einem Regal, mehrere Gläser dazu, stellte diese auf den kleinen Rundtisch vor der Sitzmöbeln und entkorkte mit geschickten Händen das Behältnis. Dann roch er zwei-, dreimal am Inhalt und seufzte leise. "Guter, alter Portwein, so wie er sein muss. Stark, süffig, mit blumigen Noten. Ihr solltet ihn euch nicht entgehen lassen." Und damit schenkte er Herrn Dallgruber als erstem ein, danach Carl und zum Schluss Malte, der freudig nach dem kelchartigen Glas griff. Nachdem sie allesamt den ersten Schluck gekostet und für gut befunden hatten, senkte sich Ruhe über die seltsame Runde. Nur das Knarzen und Knarren des Schiffs und das Hin- und Herrollen eines Fernrohres auf der Ablage hinter dem Kartentisch waren zu hören. Draußen sah Carl Tümmler zwischen den Wellen mit dem Schiff um die Wette schwimmen. Er stieß Malte an, ganz so wie früher, wenn sie in der Schule saßen und er ihn auf etwas Besonderes aufmerksam machen wollte. Malte schaute in die angegebene Richtung und grinste. Wenn er so lachte, sah Carl wieder den Jungen von damals in ihm. Oder war es erst gestern gewesen? Er merkte, wie die Erinnerung wieder Raum griff, eine Erinnerung, die er in den letzten Stunden so weit von sich geschoben hatte. Mutter... und diese entsetzliche Beerdigung. Das Grauen in der alten Kirche. Diese monströsen Wesen...". Sein Atem ging schneller und er rutschte auf seinem Platz vor und zurück. Er... Carl blickte auf und sah, dass ihn alle ansahen. Herr Dallgruber schaute mitfühlend aus seinen kleinen, wachen Augen und Malte hatte ihm eine seiner großen Hände auf die Schulter gelegt, ohne dass er es bemerkt hatte. Der seltsame Kapitän des noch seltsameren Schiffes lächelte ihm aufmunternd zu und goss, ohne zu fragen, Carl ein weiteres Glas Portwein in sein bereits geleertes Glas nach. Dann hob er sein eigenes und hielt es dem jungen Mann zuprostend entgegen. Carl hob zögernd das Glas, dann stellte er es ungetrunken wieder auf den Tisch. "Nein, ich kann nicht. Der Wein macht alles nur noch schlimmer! Ich... als ich da im Sarg lag und meine Sinne schwanden, war ich mir so sicher, dass ich die Lösung gefunden hatte, warum es ausgerechnet mich erwischt hatte! Und kaum hatte ich sie, da wurde ich so entsetzlich müde und kurz darauf standen Herr Dallg...", er verbesserte sich, "... Mijnheer van der Daal und Malte vor meinem geöffneten Sarg. Ohne sie...", ihm stockte die Stimme. Dann schüttelte er den Kopf und presste die Hand vor den Mund. Der Herr der "Cherub" stand auf und trat auf ihn zu. Dann legte er eine seine braungebrannte Hand vor Carl auf den Tisch und zeigte auf den Ring, der an einem der Finger stak. "Was siehst du, Charles?" Der Angesprochene blickte erst beiläufig auf das Schmuckstück, sah wieder weg nur um sogleich nochmals hinzuschauen. Diesmal verweilte sein Auge länger. "Das... den... Ring kenne ich! Der...", er riss den Rucksack, den er bislang achtlos zu seinen Füßen liegen hatte, an sich und öffnete ihn. Nach einigen Augenblicken heftigen Herumkramens zog er mit zitternden Fingern einen der beiden Ringe aus der Tasche, die er der steinernen Gestalt in der Kapelle entnommen hatte. "Hier ist er!" In seiner Hand befand sich der Ring mit dem geflügelten Pferd; und er glich dem an der Hand des Kapitäns haargenau. Malte pfiff durch die Zähne. Herr Dallgruber war ebenfalls aufgestanden und hatte sich auf den Tisch gestützt vorgebeugt. "Was für eine seltsame Fügung! Woher wusstet Ihr davon, werter Capitano Charonus?"Es war das erste Mal, dass Herr Dallgruber den Herrn des Schiffes mit einem Namen ansprach.

Das FragmentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt