Das Fragment

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Die Leiche saß im Schneidersitz auf dem Eis des zugefrorenen Sees. Hätte ein unbeteiligter Betrachter sie aus der Entfernung gesehen, wäre er gewiss der naheliegenden Meinung gewesen, sie sei ein Opfer des strengen Frostes geworden - jemand, der nach einem Besuch der einzigen Gastwirtschaft in der kleinen Gemeinde am östlichen Seeufer den Heimweg nicht mehr gefunden und, aufgeheizt durch billigen Schnaps, seinen letzten Sitzplatz bei minus 25 Grad auf einer meter-dicken Eis-Scholle aufgesucht hatte. Bei näherem Hinsehen jedoch hätte ein irritierendes Detail die plausible These des Betrachters schlagartig zunichte gemacht: Der Kopf des Toten war um 180 Grad auf den Rücken gedreht und gab der ganzen Situation eine bizarre Anmutung. Der Junge war wie erstarrt; das Unwirkliche der Situation vermischte sich auf beängstigende Weise mit einer vertrauten Umgebung, die er bis jetzt mit angenehmen Erfahrungen und Erinnerungen verbunden hatte - im Sommer verbummelte Nachmittage mit Schwimmen und Angeln, Wintertags Eisstock-Schießen und Schlittschuhlaufen, bis die Kälte ihn wieder in das warme Haus heimtrieb. Den heutigen Tag, der den Namen gar nicht so recht verdiente, da die Sonne es nicht durch die schweren Schneewolken geschafft hatte, wollte er eigentlich damit verbringen, seiner Mutter im Stall zu helfen. Sie musste diese heruntergekommene Bruchbude unbedingt wetterfest machen. Er empfand es als reine Zeitverschwendung, aber was seine Mutter sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das war ihr nur sehr schwer wieder auszureden. Seine Gedanken rasten. Um ihn herum war es seltsam ruhig. Nur der Wind trieb mit leisem Knistern Eiskristalle über die weite Seefläche. Weit und breit kein Mensch, das Licht im seltsamen Dämmer der späten Nachmittagsstunde. In der Ferne bellte ein Hund. Irgendwo da hinten lag das halb verfallene Haus, das seine Mutter von diesem Mann geerbt hatte. Er fühlte sich verloren. Und dabei sah ihn dieser Tote auf dem Eis mit seinen gebrochenen Augen unentwegt an. Wie gelähmt konnte er nur zurückstarren. Dabei hätte er am liebsten geschrien und das Weite gesucht. Aber er schaffte es nicht! Was war das? Warum konnte er seinen Beinen nicht diesen einfachen Befehl vermitteln und sie dazu bewegen, ihn von dem Ort des Grauens fortzutragen? Während er noch über diese Merkwürdigkeit nachdachte, fiel sein Blick auf das Stück Papier, das aus der Jackentasche des Toten herausragte und seltsam verlockend im Wind flatterte. Sein Augenmerk ging wieder zum Gesicht des Toten zurück - hatte er ihm grad aufmunternd zugezwinkert? Bleckte er vielleicht grinsend die Zähne, darauf hoffend, dass der Junge seine Aufmerksamkeit von ihm abwendete und er ihn sich schnappen konnte? Ihm fielen all die Geschichten ein, die wohl jeder Junge im Alter von dreizehn Jahren schon einmal gehört hatte - die Erzählungen von den Geistern im See, die sich an unvorsichtigen Schwimmern für erlittene Schmach rächten, an die Sagen von Irrlichtern, die den einsamen Reisenden ins Moor lockten, wo sie ihn grausam umkommen ließen. War er selbst jetzt an der Reihe und stellten sich die Geschichten letztendlich als real dar? Er schluckte und versuchte sich zusammenzureißen. Was war zu tun? Fortlaufen und den Schutzmann vom warmen Ofen herauszuläuten schien ihm das Sinnvollste. Er konnte auch darauf hoffen, dass der alte Alois mit seinem Heuschlitten vorbeigefahren kam und ihm beistand; oder er rannte jetzt gleich nachhause und sagte seiner Mutter alles. Sie würde dann schon weitersehen. Doch immer noch befand er sich Auge in Auge mit dem Toten in der hereinbrechenden Dämmerung. Ihm fiel auf, dass dessen Gesicht glatt rasiert war. Ungewöhnlich für die Gegend hier, wo jeder Mann und jede Frau damit beschäftigt war, den Broterwerb zu bewältigen und sich nicht großartig mit Äußerlichkeiten aufhalten konnte. Auch die Kleidung des Mannes sah nicht allzu abgetragen aus. Überdies war er recht wohlgenährt. Dem Jungen fiel abermals das flatternde Stück Papier auf. Noch ein Weilchen, dann hatte der Wind es aus der Tasche herausgezogen und fortgeweht. Soweit durfte es nicht kommen! Das Begehren, dieses Papier zu besitzen, wurde stärker. Und so groß die Angst vor dem Toten auch war, größer noch wurde die Furcht, dieses merkwürdige Stück zu verlieren. Ein normales Stück Papier, wie es schien! Noch ehe er selbst wusste, was geschah, machte er zwei Schritte auf den Leichnam mit dem verdrehten Kopf zu. Er roch jetzt trotz der Kälte einen Hauch von Rasierwasser. So ähnlich hatte Onkel Kurt gerochen, oder der Bekannte von seiner Mutter, wenn er sich am Sonntag frisch machte. Jetzt waren sie tot... Ohne weiter nachzudenken griff Carl zu und hatte den flatternden Fetzen in der Hand. Ihm war, als ob der Leichnam ihn durch die einsetzende Finsternis noch etwas breiter angrinste und ihm ein Auge zudrückte. Der Atem des Jungen ging stoßweise, dann rannte er los. Dabei drehte er ständig den Kopf zurück zu dem Toten, weil er Angst hatte, dass dieser ihn verfolgen und das gestohlene Stück Papier zurückverlangen könnte. Doch nichts dergleichen geschah und schon nach ein paar Metern Flucht über das Eis war die Leiche nur noch ein dunkler Punkt, der rasch kleiner wurde. Als er daheim ankam, war er völlig außer Atem und zitterte, so dass seine Mutter alles stehen und liegen ließ, um ihn zu beruhigen. Noch in derselben Nacht läutete sie beim Schutzmann Wiczorek, der ihr erst keinen Glauben schenkte und sich dann mürrisch, versehen mit einer Stablampe, eingepackt in mehrere Lagen Winterkleidung, auf den kalten Weg hinaus zum Teich machte. Sein Fluchen und Schimpfen war im ganzen Dorf zu hören und wandelte sich erst dann in ungläubiges Schweigen, als er auf dem zugefrorenen Weiher tatsächlich die geschilderte Szenerie vorfand. Sodann wiederum fluchte er, dass er seinen Kollegen hatte schlafen lassen und abermals den Weg ins Dorf zurückgehen musste, um weitere Hilfe zu holen. Am frühen Morgen schließlich war die halbe Gemeinde draußen vor dem Dorf und sah den Schutzmann gewichtig im Gespräch mit Pfarrer, Lehrer und mehreren Kollegen aus den Nachbardörfern. Der Arzt hatte in der Nacht noch ein Kind zur Welt bringen müssen und traf deshalb erst gegen sieben Uhr am Fundort ein. Da schlief Carl schon längst, gefangen in wirren Träumen von grinsenden Toten und seltsamen Zeichen auf vergilbtem Papier. Seine Mutter saß die Zeit über neben dem Bett und hielt die Hand des Jungen, bis auch sie völlig übermüdet einschlief.

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