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Prompt: Beginne Deine Geschichte mit jemandem, der ein Geheimnis erzählt. Beende sie mit jemandem, der lügt.

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»Du willst mein dunkelstes, schmutzigstes Geheimnis hören? Na schön. Hier ist es: Nachts, wenn ich ganz allein bin-«

»Weinst du dich in den Schlaf«, grätscht Tom dazwischen.

Empört ringe ich nach Luft. »Nein.«

»Du kannst nicht ohne Nachtlicht einschlafen, weil du Angst im Dunkeln hast«, sinniert er auf ein Neues.

»Nein.«

»Dann kannst du nicht aufhören, an mich zu denken. Weil du mir schon vom ersten Augenblick an verfallen warst. Ich wusste es!«

Jetzt wird es lächerlich. Aber wir reden hier von Tom Hastings, den Jungen, den ich erst seit einer Woche kenne und der nur Blödsinn ... und sich selbst im Kopf hat. Irgendwie hat er mich dazu gebracht, dass ich ihm trotzdem eine Chance gebe. Beim Zuhören zumindest. Oder wohl eher beim Zusehen; wie sich seine leicht spitzbübisch grinsenden Lippen bewegen ... Meine Antwort lautet jedoch immer noch: »Nein.«

»Doch. Insgeheim hab ich dich schon längst um den kleinen Finger gewickelt. Ich weiß es einfach. Aber wie heißt es so schön? Ein Gentleman genießt und schweigt.«

Von wegen Schweigen und von wegen Gentleman. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht einmal weiß, wie letzteres Wort buchstabiert, geschweige denn geschrieben wird. Leider muss ich zugeben, dass er mit dem ›um den kleinen Finger gewickelt‹ nicht gänzlich Unrecht hat – sein Äußeres trägt einen größeren Anteil an seiner Chance, als mir lieb ist.

Ich meine, sieh sich einer seine unheimlich schönen, fast schwarzen Augen mit den dichten und unfassbar langen Wimpern an. Beinahe wirkt es, als ziehe er sich einen Lidstrich. Allein das lässt ihn verdächtig nach einem verruchten Rockstar aussehen. Womit er exakt den Typ Mann verkörpert, dem ich nicht widerstehen kann.

Die nietenbesetzte Lederjacke und seine verwaschene, löchrige Jeans tun ihr Übriges. Nicht zu vergessen das obligatorische Bandshirt, die ramponierten und vollgekritzelten Chucks sowie sein dunkles Haar, das dringend einen Kamm gebrauchen könnte. Zu meiner Schande gestehe ich, dass ich meine Finger unter enormer Gewaltanstrengung davon abhalten muss, sich darin zu vergraben.

»Das hättest du wohl gern«, zische ich.

»Allerdings«, erwidert er selbstgefällig. »Aber, wenn es das nicht ist«, seine Pupillen weiten sich, während er sich in eine lässige Denkerpose begibt, »dann ... besorgst du es dir selbst.« Verträumt lächelnd gleitet sein Blick in weite Ferne und ich höre nur mit halbem Ohr zu, weil ich in der Betrachtung seines Mundes förmlich versinke; die Winkel besitzen diesen ganz speziellen Schwung, sodass Tom stets über etwas amüsiert zu sein scheint. Unterbewusst knabbere ich an meiner Unterlippe herum. »Du weißt schon. Du berührst dich an einer ganz besonderen Stelle ...« Moooment, was? »... zwischen deinen Bei-«

»Stopp! Um Himmels willen – NEIN.« Erschrocken keuche ich auf und kann ihn gerade noch bremsen, den Gedanken zu Ende zu sprechen.

Er lacht leise in sich hinein. »Ohoho, du tust es. Und ganz sicher denkst du dabei an mich«, raunt er und zwinkert mir zu. So viel zu ›bremsen‹. Kurz darauf tippt er völlig unschuldig: »Du schläfst mit Gesichtsmaske.«

»Nein.«

Ein irritierter Seitenblick. »Beißschiene?«

»Nein.«

Nun schweift Toms Blick suchend durch mein Zimmer. »Oh, warte ... Jetzt hab ich's! Du kannst nicht ohne deinen Teddy schlafen.« Er deutet auf mein Bett, wo zu meinem Leidwesen ein genau solches, noch dazu sehr flauschiges und extrem kitschiges Exemplar direkt über dem Kissen auf der schmalen Ablage thront.

Mist.

»Was? Nein. Und hör endlich auf, mich zu unterbrechen.« Peinlich berührt versuche ich das Thema zu wechseln, auch wenn das nächste nicht angenehmer ist. »Wenn ich nachts nicht schlafen kann, weil meine Gedanken nicht zur Ruhe kommen, bete ich zu Gott. Manchmal ... nein, eigentlich immer bitte ich ihn darum, dass er auf meinen Dad achtgibt ... Wo auch immer er ... jetzt ist.« Dahin ist das nervöse Kribbeln, das ich in Toms Nähe verspüre. Schwer schluckend unterdrücke ich die aufkeimenden Tränen, die immer dann zutage treten, wenn mich jegliche Erinnerung an den schlimmsten Tag meines Lebens und die Leere danach zu überwältigen drohen. »Er hatte vor ein paar Jahren einen Unfall, den er ... nicht überlebt hat. Ich vermisse ihn. Sehr sogar. Und wenn ich bete, dann fühle ich mich ihm näher. Es tröstet mich.« Verstohlen wische ich mir mit dem Ärmel meines dünnen Nachthemdes über die brennenden Augen und schniefe leise in den Stoff.

Toms Miene nimmt einen ernsteren Zug an. Unbeholfen tätschelt er meine rechte Schulter. Eine wohlige Wärme breitet sich von der Stelle aus. »Oh, das tut mir leid. Das ist aber nicht schmutzig. Das ist verdammt noch mal ... traurig.« Seine tiefe Stimme vibriert bis in meine Knochen. Es ist wirklich eine Schande, dass ich ihm weisgemacht habe, ich würde nicht auf seine Reize reagieren.

»Tja, mit schmutzigen Geheimnissen kann ich dir nicht dienen. Meine Weste ist rein und weiß. Strahlend weiß, um genau zu sein. Es muss dir auch nicht leidtun. Du konntest es nicht wissen. Ich erzähle sonst niemandem davon.«

»Danke.«

»Wofür?«

»Dass du es mir anvertraut hast.«

»Ich dachte, das wären die Regeln.« Meine Mundwinkel zucken nach oben. »Und du willst kein Sterbenswörtchen zu meiner reinen, strahlend weißen Weste sagen?«

Tom grinst ebenfalls. Er weiß ganz genau, was für eine Steilvorlage ich ihm soeben anbiete – immerhin könnte er mich jetzt fragen, ob mich seitdem nicht nagende Schuldgefühle plagen; was sie definitiv tun, aber ich weiß auch, dass Dad nicht gewollt hätte, dass ich mir deswegen selbst im Weg stehe – und entscheidet sich dennoch für ein schlichtes: »Nope.«

»Wie du willst.« Ich seufze. »Jetzt bist du dran: Was ist dein dunkelstes, schmutzigstes Geheimnis?«

»Rate.«

Ich bin mehr als mies im Raten. Und im Konzentrieren, wenn Tom gefühlt jeden Zentimeter meines Gesichts unter die Lupe nimmt. Aber dann taucht unser erstes Aufeinandertreffen wie aus dem Nichts in meinem Gedächtnis auf und ich entsinne mich daran, wie seine Mom ihn mir vorgestellt hat: ›Und das ist mein Tommy.‹

»Mhhh ... Gib's zu, dich macht es fuchsteufelswild, dass du immer noch ›Tommy‹ von deiner Mom genannt wirst.«

Es folgt ein unbeeindrucktes Schulterzucken. »Nein, macht mir nichts aus.« Wiederum gefolgt von einem äußerst dreckigen Grinsen. »Im Gegenteil, wenn du darauf bestehst, darfst du ihn sogar ganz laut schreien, während-«

»Verschone mich mit den Details!«, warne ich mit hoch erhobenem Zeigefinger, den er aus irgendeinem Grund fasziniert betrachtet. Räuspernd fahre ich fort: »Nein also? Dann, ... Tommy, lass mich überlegen ...« Ich reibe mir das Kinn. »Ahhh! Dein Gerede über diese versauten Sachen, die du mit mir anstellen möchtest, sind bloß heiße Luft.« Heiße Luft, die sich in mir aufstaut und ich krampfhaft unterbinden muss, an die Oberfläche zu dringen.

»Nein. Wobei, ... in deiner Nähe wird mir schon ganz anders. Ich will dich wirklich-«

»Komm schon! Niemand – zumindest kein weibliches Wesen mit Grips –, fällt auf diesen Schwachsinn rein.«

»Da liegst du so was von daneben.«

Und da gebe ich ihm so was von recht. Nur kann ich es nicht laut aussprechen.

»Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du bisher jedes Mädchen dazu bringen konntest, sich mit dir einzulassen.« Aufgebracht mache ich eine Handbewegung, die seinen Körper von den Haar- bis zu den Zehenspitzen umfassen soll. »Mit ... dem da?«

Verwirrt wandert Toms Blick nach unten und anschließend wieder zu mir hinauf. »Oh, doch.« Er feixt. »Das habe ich. Keine – und wer sagt eigentlich, dass ich nur was mit Mädchen hatte? Wir leben immerhin im einundzwanzigsten Jahrhundert. Aber ja, niemand war immun gegen meinen Charme.« Mit seinen großen Händen – meine sind dazu im Vergleich so mickrig wie die eines Kleinkindes – vollführt er die gleiche Geste. »Und ... dem da.« Kopfschüttelnd murmelt er: »Nur du ... Du bist mir ein Rätsel ...«

Kein Rätsel ... Nur zu stolz, die Wahrheit zuzugeben.

Vergiss esWo Geschichten leben. Entdecke jetzt