Ich blickte ein letztes Mal in den Spiegel. Was ich sah, war normal und unauffällig. Aber das lag daran, dass meine roten, schmerzenden Wangen stark überschminkt waren. Als ich mich heute Morgen fertig machte und mich sah, war ich schockiert. Ringe unter den Augen, geschwollene Augen, rote Wangen. Ich sah nicht gesund aus und wenn das jemandem auffiel, würde Ian mir wehtun. Also griff ich, wie sonst auch immer, wenn Ian mich schlug und ich zur Uni musste, zu meiner Schminke. Niemand durfte etwas merken. Das war klar. Es würde erst sein Image ruinieren und dann würde er mich ruinieren.
Am Anfang dieser Ehe, als er mir das erste Mal wehtat, bemerkte meine Mutter bei einem Besuch einige blaue Flecken, weil ich ein T-Shirt trug. Ich erzählte ihr, ich wäre auf der Treppe ausgerutscht und hingefallen. Was sie nicht wusste, war, dass Ian mich am Abend zuvor mit voller Wucht auf den Boden geschleudert hatte, weil ihm das Essen nicht geschmeckt hatte. Doch ich fiel nicht auf den Boden, sondern knallte gegen die Kante des Küchentisches. Mit meinem Arm. Er schrie mich an und drohte mir. »Wehe, jemand bekommt das nochmal mit«, sagte er damals. »Passiert sowas nochmal, bringe ich dich verdammt nochmal um und lasse es wie einen Unfall aussehen«. Ich glaubte Ian. Er würde es liebend gerne tun. Und seitdem habe ich jeden Tag gedacht: Tu es endlich, Ian. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich hasse mein Leben.
Fertig geschminkt ging ich aus dem Haus. Ich brauchte nicht lange, um zur Universität zu kommen, denn sie war nicht weit weg. Meistens ging ich zu Fuß, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Ich genoss für ein paar Minuten den frischen Sommerwind und die Ruhe und freute mich, aus diesem Haus herauszukommen. Die Universität war mein Zufluchtsort. Diese Tatsache war traurig, aber nicht zu ändern. Ian wusste immer, wo ich war und hatte überall seine Leute. Ian ließ mich nie aus den Augen. Aus Angst, ich würde irgendwem von dieser schrecklichen Ehe erzählen und ihn somit auffliegen lassen.
Ursprünglich wollte ich Literatur oder Buchwissenschaft studieren. Ich las schon als Kind sehr gerne und schrieb ab und zu etwas auf. Aber meine Eltern und Ian machten mir einen Strich durch die Rechnung. Sie sagten, ich bräuchte etwas Wissenschaftliches oder Unternehmerisches fürs Leben. Bücher seien nutzlos und würden die Menschheit nicht voranbringen. Von wegen. Das war leicht gesagt, wenn man noch nie ein richtiges Buch in der Hand hatte.
Aber so lief das eben. Ich musste mich an das halten, was sie sagten, denn sie waren meine Geldquelle und würden mein Studium bezahlen. Und so landete ich im Studiengang „Wirtschaftspsychologie". Es war interessant, aber einfach nicht das, was ich machen wollte. Trotzdem habe ich es irgendwie ins fünfte und vorletzte Semester geschafft und es dauerte nicht mehr lange bis zu meiner Bachelorarbeit. Das würde ich schon irgendwie schaffen.
»Bellaaa«, hörte ich aus kurzer Entfernung und drehte mich zu der Frauenstimme, die meinen Namen rief. Es war Amelia. Ich musste lächeln.
»Wow, siehst du gut aus!«, fügte sie hinzu, während sie auf mich zugelaufen kam und mich fest umarmte. Wenn sie wüsste, wie ich unter der Schminke und meinem Sommerkleid aussah, würde sie wahrscheinlich nicht mehr so strahlen. Aber auch sie wusste von nichts. Ian arbeitete mit ihren Eltern zusammen. Wie ich schon erwähnte, Ian kannte jeden. Und Ian wusste alles. Deshalb habe ich Amelia nie etwas erzählt, geschweige denn mir etwas anmerken lassen. Stattdessen erzählte ich ihr, wie toll Ian war, was für ein fürsorglicher und warmherziger Ehemann er war und wie glücklich er mich doch machte. Ich log sie an und spürte, wie ein kleiner Schmerz durch meine Brust schoss, der mich verrückt machte. Manchmal wünschte ich mir, er wäre nett. Vorsorglich. Herzlich. So wie ich ihn eben vor Anderen beschrieb. Ich wünschte mir, er würde mir nicht wehtun. Ich fragte mich, wie ein netter Ian drauf wäre und wie gut mein Leben doch aussähe, wenn er mich nicht hassen würde. Aber auf all diese Fragen gab es keine Antworten. Einen netten Ian gab es nie, gibt es nicht und wir es nie geben.
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craving the deadly
Romance𝐦𝐚𝐟𝐢𝐚 𝐥𝐨𝐯𝐞𝐬𝐭𝐨𝐫𝐲 Bella lebt unglücklich in den Fängen eines mächtigen, gewalttätigen Mannes, den sie vor zwei Jahren heiraten musste. Sie will Ian entkommen, weiß aber, dass es keinen Ausweg gibt. Eines Tages trifft sie jedoch auf den n...
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