5. 𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍

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Die Zeltplane wird durch den rauschenden Wind sanft hin und her gewiegt. Ich kann gar nicht genau sagen, von was ich geweckt wurde. Irgendetwas fühlt sich anders an als zuvor. Irgendetwas fehlt. Seufzend ziehe ich die Knie an den Bauch und kuschele mich wieder in den Schlafsack. Neben mir höre ich Sams ruhige Atemzüge, die mir ein gewisses Gefühl von Sicherheit geben. Ihre Gleichmäßigkeit lässt mich erneut zur Ruhe kommen.

Doch so sehr ich auch versuche wieder in einen traumlosen Schlaf zu fallen, irgendwie mag es mir nicht gelingen. Entnervt öffne ich die Augen und starre in das verschwommene Schwarz der Nacht. Stumm lausche ich einem klagenden Uhu, dem vermutlich gerade seine Beute entwischt ist. Immer noch etwas benommen vom Schlaf, taste ich mit der Hand neben mich, in der Hoffnung mein Handy zu finden, und stutze. Der Schlafsack, in dem eigentlich Adam liegen sollte, ist leer, der Stoff unter meinen Fingern kalt.

Unruhe kommt in mir auf. Wo ist er nur? Vorsichtig schäle ich mich aus meinen Decken und versuche Sam nicht aufzuwecken. Doch der dunkelhaarige Junge hat den tiefsten Schlaf, den ich kenne. Wahrscheinlich könnte neben ihm eine Bombe hochgehen und er würde weiterschlafen. Ich vergrabe meine Hände in den Taschen von Sams Pulli, den er mir vor dem Schlafen geliehen hat. Mit einem leisen Rascheln schiebe ich die Zeltplane beiseite und trete ins Freie.

Der volle Mond strahlt hell auf den Garten der Ashtons herunter, das Wasser des Teiches glitzert in seinem silbernen Licht. Eine laue Brise zieht durch meine offenen Haare, sodass ich sie mir aus dem Gesicht streichen muss. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Beinen aus. Gras kitzelt meine nackten Füße, während ich mich nach Adam umsehe. Doch weder im Garten noch auf der Terrasse kann ich ihn entdecken. Es ist hell genug, um die Umgebung gut erkennen zu können.

Unentschlossen mache ich ein paar Schritte nach vorne, ohne Idee wie ich weiter vorgehen soll, als mein Blick auf den Trampelpfad fällt. Er führt direkt neben dem Teich durch eine Tür im Zaun Richtung Wald. Ein Lächeln überzieht meine Lippen. Natürlich. Ich weiß wo Adam ist. Wie von allein beginnen meine Füße zu laufen und lenken mich über diesen Pfad auf den Wald zu, der jedoch ein bisschen bedrohlich wirkt. Schwarz und mächtig ragen die Bäume in den sternenklaren Himmel.

Ich mag es, nachts draußen zu sein. Natürlich verspüre ich auch manchmal eine gewisse Furcht, aber ich denke, das geht nahezu jedem so. In der Nacht wirkt einfach alles anders, geheimnisvoller. Mythischer. Es werden andere Geschichten erzählt als tagsüber. Doch es ist auch beruhigend. Die Nacht klärt meine Gedanken mit ihrer Stille. Mit ihrer Sanftheit. Außerdem habe ich immer das Gefühl, bei Nacht freier Atmen zu können. Es ist schön, es entspannt mich auf gewisse Weise.

Seit Adam sein Auslandsjahr angetreten ist, bin ich diesen Weg nicht mehr entlanggelaufen. Hunderte Erinnerungen überspülen mich wie eine warme Welle, als ich einen Schritt nach dem anderen auf die Bäume zu gehe. Sie handeln von warmen Sommertagen, an denen wir jauchzend durch die Wiesen getollt sind, aber auch von den ersten gebrochenen Herzen, deren Splitter hier tief unter der Erde vergraben liegen. Wir haben hier so viel erlebt.

Ich versuche die piksenden Stöcke an meinen Füßen zu ignorieren und seufze schwer. Manchmal wünsche ich mir, ich würde wieder in diesen glücklichen Kindertagen leben. Ohne Druck, ohne Schule, ohne Probleme mit den Eltern und der Liebe. Damals war alles besser. Man hatte seine kleine heile Welt, ohne Ahnung, wie groß und kompliziert eigentlich alles ist. Keiner hat sich Gedanken über seinen Körper, sein Aussehen oder irgendwelche Gefühle gemacht. Man war einfach man selbst, es ging darum im Moment zu leben und Spaß zu haben. Das war alles, was zählte. Manchmal denke ich, dass Erwachsene mehr von Kindern lernen können, als Kinder von Erwachsenen.

Ich muss schmunzeln. Ich höre mich schon an wie irgendeine Oma. Als vor mir die ersten Bäume auftauchen, biege ich nach rechts ab und laufe am Waldrand entlang. Ich würde diesen Weg auch mit verbundenen Augen finden, so oft bin ich ihn gegangen. Nach kurzer Zeit erscheint die hölzerne Plattform zwischen den Baumkronen, auf der ich den Ashton Brüdern im Laufe der Jahre beinahe all meine Geheimnisse gebeichtet habe. Und sie mir ihre.

My Bad PassionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt