Als junges Mädchen war ich absolut überzeugt davon gewesen, dass Wyoming der schönste Ort auf der ganzen Welt war. All die endlos erscheinenden Wälder, die zwar dunkel und unheimlich wurden, je tiefer man sich darin verlief, aber immer ein bisschen nach Abenteuer rochen. Von den Bergen umarmte bunte Wiesen, die mir weit über den Kopf ragten und ein perfektes Versteck boten, wenn ich ein wenig Zeit für mich brauchte. Wilde Tiere, die in jedem Strauch und auf jedem Ast lauerten und lebten. Nie enden wollende Sommertage, die so heiß waren, dass wir im Garten unter freiem Himmel schliefen. Und verschneite Winternächte, die sich mit einer Tasse heißer Schokolade vor dem Kamin und einem Stück Apfelkuchen von Grandma, wie die wärmste Umarmung der Welt anfühlten.
Wyoming war immer mein eigenes kleines Paradies.
Heute verknotete es mir den Magen bei dem Gedanken daran, wieder nach Wyoming zurückzukehren. Es waren knapp vier Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Damals konnte ich es nach der High School kaum erwarten, Buffalo, meinen Heimatort, und damit auch Wyoming zu verlassen. Nicht nur das; es war mein fester Plan gewesen, einfach alles hier gänzlich hinter mir zu lassen und nur noch nach vorn zu schauen. Und trotzdem saß ich gerade in einem schlecht klimatisierten Fernbus, der mich seit 15 Stunden quer durch den Bundestaat kutschierte, der einst meine heile Welt gewesen war.
Selbstverständlich beeindruckten mich die Berge und Wälder hier noch immer, aber es fehlte ein bestimmtes Gefühl bei ihrem Anblick, das ich nicht wirklich in Worte fassen konnte. Das Offensichtliche wäre es, zu sagen, dass Mom hier fehlte. Dass Wyoming sich verändert hatte, als sie vor 14 Jahren von einem Tag auf den anderen nicht mehr hier war. Doch eigentlich war genau das Gegenteil der Fall. Obwohl Mom selbst nicht mehr existierte, versteckte sich die Erinnerung an sie in jedem Zentimeter dieses Ortes. Ich fand sie zwischen den Rillen der Baumrinden, sie kitzelte wie die Gräser aus den Wiesen an meinen Waden und deckte mich zu wie der Schnee, der sich im Winter über die Gipfel der Berge legte. Dass ich all dem irgendwann nur noch entkommen wollte, hatte nichts damit zu tun, dass ich es lieber hätte, ich würde sie einfach so vergessen. Es machte mich nur so unglaublich wütend, dass ich mich damit zufriedengeben musste. Mit der Erinnerung, statt meiner lebendigen Mom.
Mein vibrierendes Handy riss mich aus meinen Gedanken und ich wandte den Blick von der Landschaft vor dem Fenster ab. Es war eine Textnachricht von Khai.
Emory, ich sags nur ungern, aber Trent ist gerade im La Luna. Mit irgendeiner Blonden.
Eine weitere Nachricht.
Soll ich hingehen und eine Szene machen?
Und noch eine.
Ziemlich frech von ihm, sich so schnell mit einer Neuen blicken zu lassen.
Khai war sich vermutlich vollkommen bewusst darüber, dass ich beim Lesen ihrer Nachrichten die Augen verdrehte. Nach vier Jahren in einer WG zusammen, war sie zu so etwas wie meiner Familie in Washington geworden. Wir hatten gemeinsam begonnen in DC Jura zu studieren und wohnten im ersten Jahr in einem großen Townhouse, in welchem wir uns sogar ein Zimmer teilen mussten. Der Vermieter hatte beschlossen, sich die steigenden Mieten auf ganz besondere Art zu Nutzen zu machen und jedes der fünf Zimmer im Haus doppelt zu vermieten, dabei aber von jedem die volle Miete zu verlangen. Dass sich diese Masche mit Jura Studierenden aber nur begrenzt durchsetzen lässt, hätte ihm eigentlich klar sein sollen.
Khai und ich hatten Glück und fanden eine kleine aber gemütliche Wohnung in einer ruhigen Wohngegend, die wir uns in den vergangenen drei Jahren zu Eigen gemacht hatten. Bei einem Trinkwettbewerb hielt Khai am längsten den Handstand, während sie gleichzeitig mindestens zwei Liter Bier zu sich nahm und gewann dabei einen Gutschein für den Baumarkt. Wir kauften ein paar Farbeimer und strichen jede einzelne Wand in der Wohnung, bis kein weißer Fleck mehr übrig war.
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Barefoot Summer Blue Moon
Storie d'amoreEmory kehrt nach vier Jahren in ihre Heimat im ländlichen Wyoming zurück, um sich um ihren angeschlagenen Vater zu kümmern. Eigentlich will sie nicht länger als nötig an diesem Ort bleiben, den sie mittlerweile mit so viel Schmerz und Reue verbindet...