Wyatt und ich räumten gemeinsam den Tisch ab, als wir mit dem Essen fertig waren. Im Fernsehen lief ein Spiel der NBA, das wie ein Geräuschteppich einen Puffer zwischen Dad und uns bildete. Er hatte sich widerstandslos aufs Sofa fallen lassen und keinen Mucks mehr von sich gegeben.
„Musst du wirklich nach drei Wochen wieder gehen?" fragte Wyatt als er mir die leere Auflaufform reichte.
Ich stellte das Wasser in der Spüle auf heiß und fühlte mit dem Finger die Temperatur des Wasserstrahls. „Am 1. Juli beginnt ein Praktikum, das ziemlich wichtig für mich ist", antwortete ich ihm.
Ich hatte Dad nicht gesagt, dass das Praktikum eigentlich schon in einer Woche beginnen sollte. Die Kanzlei, bei der ich mich beworben hatte, war sehr begehrt unter den Studierenden. Ich verdankte es meine Ethik Dozentin, dass sie mich für das Praktikum in Betracht gezogen hatten. Sie war es auch gewesen, die meinen Aufsatz zum Thema Schuld und Urteil für den Semesterpreis eingereicht hatte. Es war eine Erörterung darüber gewesen, ob es ein gleiches Maß für Schuld und Urteil geben konnte und ob die Gerechtigkeit ein solches Maß darstellte, oder ob sie nicht vielmehr irgendwo dazwischen lag. Eine klare Antwort hatte auch ich nicht gefunden, aber meine Dozentin war hellauf begeistert. Ob sie das immer noch sein würde, wenn sie davon erfuhr, dass ich die Kanzlei um einen zweiwöchigen Aufschub des Praktikums gebeten hatte, wusste ich nicht. Aber ich hoffte auf ein mildes Urteil, schließlich war es ja nicht meine Schuld.
Ein stechender Schmerz ließ meinen Finger zucken und ich zog ihn schnell unter dem Wasserstrahl hervor. Das Waschbecken dampfte bereits, doch ich hatte den Temperaturwechsel erst zu spät bemerkt. Ich gab einen Tropfen Spülmittel in die Form und begann damit, sie mit einem Schwamm gründlich zu schrubben.
Wyatt holte sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank und kippte ihn sich wie ein Getränk in einem Rutsch in den Rachen. Als der Becher leer war, wischte er sich mit den Handrücken über den Mund.
„Weiß Faith eigentlich, dass du jetzt hier bist?"
Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Es war eine einfache Frage, ohne Hintergedanken, ohne Unterton. Wyatt hatte keine Ahnung, welches Verhältnis wir Schwestern hatten. Er war viel zu klein gewesen, um unsere ständigen Streitereien mitzubekommen oder gar zu verstehen. Spätestens als ich am Ende der High School war und Faith gerade die neunte Klasse besuchte, gingen wir dazu über, uns einfach zu ignorieren. Und dabei war es die Jahre hinweg geblieben.
„Ich habs ihr nicht gesagt." Ich gab mein Bestes, so unberührt wie möglich zu klingen. Mir fiel der Abwasch im Spülbecken vor mir wieder ein und ich setzte mich wieder in Bewegung.
„Spätestens wenn sie nach Hause kommt, wird sie es ja sehen", gab Wyatt zurück und ich meinte ihm anzuhören, dass er dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung zuschrieb. „Ich geh ins Bett. Nacht, Em."
„Gute Nacht", murmelte ich abwesend und wartete darauf, dass meine innere Stimme verstummte und meine Ohren nur noch dem aufbrausenden Kommentator des Basketballspiels aus dem Wohnzimmer lauschten.
Das Dachzimmer war zu einer regelrechten Sauna mutiert. Ich drehte und wendete mich pausenlos, schmiss ein Kissen nach dem anderen aus dem Bett und streckte alle Gliedmaßen so weit es ging von mir, doch ich fand keine Ruhe. Zu allem Übel hatte ich auch noch vergessen, mir eine Wasserflasche aus der Küche mitzunehmen. Mein Hals drohte, sich zu einer Sandwüste zu verwandeln und es hätte mich nicht gewundert, wenn ich als nächstes wilde Halluzinationen von Wasser hinter meinen geschlossenen Augenlidern auf flimmern sah.
Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte bereits 2:20 Uhr. Mit einem hörbaren Seufzen gab ich mich geschlagen und rollte aus dem Bett. Mein Morgenmantel, den mir Khai zum Geburtstag geschenkt hatte, hing über der Stuhllehne. Mit müden Bewegungen warf ich mir das Stück Seide über die Schultern.

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Barefoot Summer Blue Moon
RomanceEmory kehrt nach vier Jahren in ihre Heimat im ländlichen Wyoming zurück, um sich um ihren angeschlagenen Vater zu kümmern. Eigentlich will sie nicht länger als nötig an diesem Ort bleiben, den sie mittlerweile mit so viel Schmerz und Reue verbindet...