2. Kapitel

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"Ein Märchenbuch?"

"Nur zu, schlag es auf!"

Immer noch zögerlich, ob sie ihm trauen konnte, brachte Rapunzel das Märchenbuch zum Tisch. Sie hatte die Geschichten und Fabeln in den langen Jahren mehr als einmal gelesen.

Ihre Finger glitten über das Inhaltsverzeichnis und stoppten bei einer Geschichte. Ein Handel. Sie hielt den Atem an.

"Kluges Mädchen!", freute sich der Kobold.

Rapunzels Herz klopfte, als sie die Seiten umblätterte. Sie hatte das Märchen von Goldmarie nie gemocht, weil es eines der wenigen ohne Happy End war. Ein Mädchen, welches Gold zu Stroh spinnen musste… ein Kobold, der ihr half und im Gegenzug einen Handel anbot…

In der ersten Nacht war es ein Ring gewesen.

In der zweiten ihr wertvolles Halsband.

In der dritten hatte sie nichts mehr gehabt und dem Kobold ihr Erstgeborenes versprochen.

Rapunzel starrte das Baby auf der Illustration an, mit einem zarten blonden Haarflaum, während seine Mutter es an sich drückte. Sie hatte mithilfe des Kobolds die Liebe des Königs gewonnen - und ihr Kind, als sie seinen Namen nicht erraten konnte, verloren.

Ach wie gut, dass niemand weiß, wer ich bin und wie ich heiß!

Sie klappte das Buch zu, wollte das verzweifelte Gesicht ihrer Mutter nicht sehen, als diese ihren Fehler nicht mehr gut machen konnte. Ihre Hand zitterte und eine Träne tropfte auf das staubige Einband.

Diese Wahrheit über ihre Mutter tat genauso weh, wie die soeben offenbarte Lüge über ihre Stiefmutter Gothel, die eben dieser Kobold war.

Der Mann sah genauso aus wie im Buch.
Er kicherte. "Wie ich sehe, hast du es verstanden. Nicht einmal das Königspaar konnte dem Handel entfliehen. Reichtümer, Schätze…" Er betrachtete einen goldenen Ring an seinem Finger. "Wer braucht das, wenn man etwas Wertvolleres haben kann?"

"Warum?" Rapunzel verfluchte es, dass ihre Stimme zitterte. "Warum habt Ihr meine Familie zerstört und mich eingesperrt? Was nutze ich Euch?"

Er stand auf und schritt durch den Raum. "Ist das nicht offensichtlich?" Vorsichtig glitten seine Finger über ihr glänzendes Haar, das überall verteilt lag. "Haare so fein wie Gold - wie gesponnenes Gold, das einst Stroh war…" Er drehte sich zu ihr. "Etwas wertloses kann wertvoll werden, wenn Magie im Spiel ist. Kommt die Liebe dazu, in dem Fall die deiner Eltern, wird es noch wertvoller. Dein Haar hat gewisse Zauberkräfte inne, weil du aus Magie und Liebe geboren wurdest."

Rapunzel entgegnete nichts, während der Kobold über eine goldene Strähne streichelte. "Genug mit der Vergangenheit. Du hast meinen Test bestanden und dich in Prinz Phillip verliebt. Ich weiß, wenn ich dir die Freiheit biete, dass es irgendwann ein Erstgeborenes geben wird. Erst Magie, dann Liebe, eins fehlt noch! Wertvoll, wertvoll! Ein gelungener Plan! Also, du willst einen Handel."

"Das will ich nicht."

Der Kobold wirkte irritiert. "Nicht?"

"Ich will meine Freiheit, aber der Preis ist zu hoch." Sie dachte an die Zukunft, die sie sich mit Phillip ausgemalt hatte, vielleicht ein Kind, welches sie bekommen hätten…

Er würde ihr denselben Handel vorschlagen, wie er ihrer Mutter vorgeschlagen hatte.

"Korrekt", entgegnete er, als könnte er Gedanken lesen. "Deine Freiheit gegen dein Erstgeborenes."

"Nein."

Er deutete auf die beengenden Wände des Turmes. "Willst du nicht frei sein? Die Welt sehen? Dein Leben leben?"

Eine neue Träne kullerte über ihre Wange. "Nicht, wenn dafür ein neues Leben verflucht wird. Ich lasse nicht zu, dass du meinem Kind etwas antust."

"Gut." Er bewegte die Finger und das Märchenbuch flog in seine Hand. "Ich wollte dir denselben Handel wie deiner Mutter anbieten. Denkst du, sie hätte das dritte Mal zugestimmt, wenn sie ihr Herz nicht an den Königssohn verloren hätte? Ich gab ihr die Chance, ihn drei Tage lang kennenzulernen, und am Ende des dritten Tages gab sie mir, was ich wollte. Dir biete ich dasselbe. Du entscheidest, wie weit du willst. Für heute nehme ich das Märchenbuch und du bekommst bis zum Sonnenuntergang deine Freiheit. Dann komme ich wieder. Schließe erneut einen Handel und du bekommst einen weiteren Tag. Oder du gehst zurück in deinen Turm - was du nicht wirst. Wenn du einmal gemerkt hast, wie wertvoll deine Freiheit ist, willst du nicht zurück, glaub mir. Beim dritten Handel kannst du deine Freiheit für immer bekommen. Du wirst sie so sehr zu schätzen wissen, dass du der Bedingung zustimmen wirst, sowie deine Mutter einst zugestimmt hat. Sie liebte den Prinzen, jetzt ist sie Königin. Was sagst du zum Handel, Prinzessin?"

Das Märchenbuch schwebte in seiner Hand wie ein Vertrag. Sie wusste, dass ein Wort alles verändern konnte. Rapunzel trat ans Fenster und atmete die frische Luft ein. Sie fühlte sich zwiegespalten. Sie konnte ihr Kind nicht verlieren und zu einem trostlosen Leben verdammen. Andererseits hatte sie die Chance die Welt zu sehen…

"Bis Sonnenuntergang? Zwei Tage?", fragte sie nach. "Wenn ich mich zweimal auf den Handel einlasse und beim dritten Mal nicht zustimme, wenn ich in meinen Turm zurückgehe, verlangst du niemals mein Kind?"

"Korrekt! Aber ich bin sicher, dass du auch beim dritten Mal zustimmen wirst."
Das würde sie niemals tun. Aber für zwei Tage wollte Rapunzel die Welt sehen, ihre Eltern suchen - und den Namen des Kobolds herausfinden. Das Märchen war klar in ihrem Kopf: Ihre Mutter hatte sie nur verloren, weil sie seinen Namen nicht erraten hatte.

Rapunzel würde ihre Freiheit nicht aufgeben. Sie würde zwei Tage suchen und wenn sie es schaffte, würde sie dem dritten Handel zustimmen und für immer frei sein. Sie würde den Namen des Monsters nennen und ihr zukünftiges Kind behalten.

Sie wäre glücklich und frei.

"Ich stimme dem ersten Handel zu", entschloss sie und wusste gleichzeitig, dass es ihr gebrochenes Herz erneut brechen würde, sollte sie es nicht schaffen.

"Wunderbar!" Er sprang durch den Raum und klatschte feierlich in die Hände.

Der Turm löste sich auf.

Zum ersten Mal spürte Rapunzel etwas zartes unter ihren Füßen. Sie sah herab - Gras. Es war in einem saftigen grün. Der frische Wind strich durch ihr Haar, brachte den Duft nach Freiheit mit sich.
"Sonnenuntergang." Der Kobold hielt das Buch fest. "Dann biete ich dir den zweiten Handel an."

In dieser Sekunde war es Rapunzel gleichgültig, was er verlangen würde. Sie atmete tief ein und strich mit den Fingern durch das Gras, bis ihr ihre Mission wieder einfiel.

Als sie sich aufrichtete, war der Mann verschwunden. Erschrocken stellte sie fest, wie hoch der Turm neben ihr war. Kein Wunder, dass Mutter Gothel winzig gewirkt hatte. Ihre Finger glitten durch ihr Haar. War es so lang?

Der Kobold hatte Recht gehabt: Einmal die Freiheit gespürt, würde sie niemals zurück in den Turm gehen.

Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wie sein Name war.

Haare fein wie Gold (Märchen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt