1. Kapitel

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"Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!"

Rapunzel trat ans Fenster und blinzelte in der Morgensonne. Der helle Schein tauchte die weiten Ebenen des Tals und des Waldes in einen goldenen Schimmer.

Die ganze Schönheit wurde zunichte gemacht, als ihr Blick nach unten fiel. Mutter Gothel wirkte wie ein kleiner dunkler Fleck auf dem Boden, ihre schwarze Tracht ließ sie wie eine unheilbringende Krähe aussehen. Mit erwartungsvollen Augen, die sie selbst auf die Entfernung durchbohrten, sah sie zu dem Mädchen hinauf.

Zur Prinzessin.

Rapunzel kannte die Wahrheit.

Trotzdem setzte sie ein strahlendes Lächeln auf und warf ihr langes Haar herunter. Die Strähnen glänzten wie fein gesponnenes Gold und waren sanft wie Seide. Hundert Meter fielen sie herab und Mutter Gothel - oder eher nur 'Gothel' - umgriff ihren Korb fester, eh sie hochzuklettern begann.

Nervös schielte Rapunzel zur Truhe unter ihrem Bett und betete, dass die alte Frau keinen Verdacht schöpfte.

Mit einem zufriedenen Grunzen trat Mutter Gothel über die Fensterbank und streckte ihre müden Glieder.

"Guten Morgen, Mutter", grüßte Rapunzel hoffte, dass ihre Worte nicht allzu angespannt klangen. "Wie geht es dir?"

"Guten Morgen, Rapunzel", gab Gothel zurück. Rapunzels Unruhe verstärkte sich, als sie ihren Korb auf den Tisch fallen ließ, sodass es knallte. "Wie es mir geht, hängt von dir ab. Ich habe dir etwas mitgebracht", sprach sie und bedeutete ihr, näher zu treten. Dann verschränkte sie ihre dürren Arme vor dem düsteren Umhang.

"Oh, wie schön!", entgegnete Rapunzel gespielt erfreut. In Wahrheit lief ihr ein Schauder über den Rücken, als sie nach dem Deckel des Korbes griff. Gothel war selten verstimmt gewesen - Wollte sie wissen, was drin war?

Vorsichtig sah sie hinein, nur um erleichtert auszuatmen. Drinnen erwartete sie nur ein dünnes Stück Stoff. Sie hob es mit ihren zarten Fingern heraus.

Es war ein Tüchlein aus Seide.

Rapunzel wirbelte herum und der Stoff segelte zu Boden. Doch hinter ihr stand nicht mehr Mutter Gothel, sondern der Königssohn, ihr geliebter Prinz. Phillip hatte die Arme verschränkt, wie Gothel es eben getan hatte.

"Was-?", krächzte sie und ihr Blick huschte durch den Raum. "Phillip, wo kommst du her? Wo ist Mutter Gothel?"

Er brauchte ihr keine Antwort zu geben. Sie ahnte es bereits.

Phillips Königsgewand wurde dunkler und fransiger, seine Arme dünner, sein Haar ergraute und wurde länger. Die warmen Augen, in die sie sich verliebt hatte, wurden blass und dunkel. Mutter Gothel funkelte sie an.

"So, so", begann sie und lief zielstrebig durch den Raum zu Rapunzels Bett. Sie öffnete die Truhe, wo Phillip ihr bei jedem Besuch ein Stück Seide mitgebracht hatte. Dutzende glänzende Stoffstücke, die sie zu einem stabilen Zopf flechten und damit fliehen wollte, lagen darin. "Der erstbeste Prinz kommt anmarschiert und du bist bereit, ihn zu heiraten, mit ihm zu fliehen und mich für immer zu verlassen."

Rapunzel fehlten die Worte. Sie bekam kaum Luft, als ihr klar wurde, wen sie am Vorabend beinahe geküsst hätte.

"Es gab nie einen Prinzen. Immer nur dich und mich." Mutter Gothels Stimme klang herzlos, aber auch erfreut.

Rapunzel sank auf den Stuhl. Sie fühlte sich, als wäre der ganze Turm auf ihr zusammengebrochen und hatte ihr kleines liebendes Herz pulverisiert. Es hatte nie eine Zukunft für sie außerhalb des Turms gegeben.

"Phillip", hauchte sie.

Mutter Gothel schlug den Deckel der Kiste wieder zu und ließ damit ihre Fluchtmöglichkeit und ihre Hoffnung verschwinden. "Oh, tu nicht so tragisch." Ihre Gestalt wurde aufrechter und auf einmal stand Prinz Philip neben ihrem Bett. "Ein Prinz", sprach er mit lieblicher Stimme, bevor er zusammensank und das Krähengewand seine ehemals stattliche Statur umhüllte. "Eine böse Stiefmutter", sagte Mutter Gothel belustigt. "Ist doch egal. Es war alles nur ein Test."

Ein gemeiner Test, in dem sie kläglich gescheitert war und ihr Herz verloren hatte.

"Nicht gescheitert, du hast bestanden!" Plötzlich veränderte Mutter Gothel sich erneut und wurde zu einem Mann. Doch es war nicht Prinz Phillip.

Rapunzel sprang vom Stuhl auf und wich zurück, bis sie gegen einen Schrank stieß. "Wer seid Ihr?"

Seine Augen funkelten belustigt. Wirres Haar stand in alle Richtungen ab und gab ihm einen Ausdruck des Wahnsinns, der durch das Hüpfen zum Fenster verstärkt wurde.

Der Mann deutete eine Verbeugung an, während die Sonne in seinen Nacken schien und ihm einen irren Heiligenschein verpasste. "Ich bin ein Zauberer. Darf ich vorstellen, meine wahre Gestalt."

Rapunzel stockte der Atem. "Es gab weder Prinz Phillip noch Mutter Gothel?"

Er winkte ab, als wollte er eine Fliege verscheuchen. "Nur lästige Hüllen."

Sie war sprachlos - schon wieder. "Eine Lüge", waren die ersten Worte, die sie über die Lippen brachte. "Alles war eine Lüge." Die Liebe, die Worte... Ihre Geschichte. War sie in Wahrheit doch keine Prinzessin, die einen Prinzen verdiente?

"Nicht alles war eine Lüge", sagte der Mann. "Du bist eine Prinzessin. Aber dazu kommen wir gleich." Er zog einen Stuhl heran und ließ sich nieder, als gehörte ihm der ganze Turm - oder die ganze Welt. "Setz dich", meinte er. "Wir haben einiges zu bereden."

Rapunzel rührte sich nicht.

"Ich bitte dich, nach so vielen Jahren." Er wandelte seine Gestalt und Mutter Gothel deutete auf den Stuhl neben sich. Früher hatten sie oft gemeinsam am Tisch gesessen und gegessen.

Als sie sich immer noch nicht bewegte, verwandelte er sich zurück. Abwartend sah er sie an.

Rapunzel zögerte. "Ich weiß nicht einmal, wer Ihr seid."

Der Mann lehnte sich zufrieden zurück, als hätte er auf diesen Satz gewartet. Er breitete die Arme feierlich aus. "Ach, wie gut, dass niemand weiß, wer ich bin und wie ich heiß", sang er mit schiefer Stimme.

Er klatschte in die Hände und der Stuhl schoss durch den Raum zu ihr, sodass sie darauf fiel und an den Tisch gebracht wurde. Erschrocken fand sich Rapunzel Angesicht im Angesicht mit dem Zauberer vor.

Sein schiefes Grinsen verlieh ihm koboldhafte Züge. "Willst du erfahren, welchen Handel ich dir für deine Freiheit anbieten kann?"

Rapunzel hatte gerade ihre Fassung wiedererlangt, als diese Worte sie wieder verschwinden ließen. "Ihr bietet mir die Freiheit?"

"Aber ja", entgegnete der Mann. Er war Mutter Gothel, er wusste, dass sie seit Jahren nach draußen wollte.

Er wusste, dass er einen hohen Preis verlangen konnte.

"Was wollt Ihr?", fragte Rapunzel vorsichtig.

Er lehnte sich nach vorne. "Ich biete dir denselben Handel an, den ich einst mit deiner Mutter geschlossen habe. Nur statt der Liebe, die sie damals wollte, bekommst du deine Freiheit."

Haare fein wie Gold (Märchen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt