Gespenster

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Smilla schleppte den Kasten Bier von A nach B und von B nach A. Sie fror in dem Getränkelager, weil sie ihre Jacke im Büro liegen gelassen hatte und sie sie nicht holen wollte, weil Tobi dort saß und sie ihm nicht begegnen wollte. Sie wollte am liebsten niemandem begegnen. Auch nicht Cleo, die sie beim Ankommen nur verdutzt angeschaut hatte, als sie die Treppe heruntergekommen war. Aber sie hatte nichts gesagt.

Heute war Montag und sie hatte sich nach dem Aufstehen auf dem Rand ihrer Matratze sitzend wieder gefunden, wie ein Häufchen Elend und mit hängenden Schultern und verquollenen Augen und dann musste sie fast lachen, weil sie in dem Moment wahrscheinlich jedes verdammte Klischee erfüllt hatte. Es hatte nur noch der geschmolzene Becher voll Eis auf ihrem Nachttisch und eine halbe Box zerknüllter Taschentücher daneben gefehlt. Aber stattdessen hatte da ihr Handy gelegen, was sie erst auf die Displayseite gedreht, und dann ganz ausgemacht hatte, weil seine Nachrichten seit Samstag nicht aufgehört hatten. Gerade am Abend wurden es mehr, das hatte sie die letzten zwei Tage festgestellt. Aber er versuchte es auch tagsüber, meistens vormittags, wahrscheinlich gerade nachdem er aufgestanden und Eda arbeiten gegangen war. Eda, die vorgestern in der Tür gestanden hatte. In dieser Jogginghose und dem Shirt, was wahrscheinlich beides ihm gehörte, weil es zu groß an ihr ausgesehen hatte. Und trotzdem hatte sie bestechend gut darin ausgesehen, mit den dunklen Augen, den dunkelbraunen Haaren und den Grübchen, den vollen, herzförmigen Lippen. Smilla war sich sicher, dass sie selbst nie auf so lässige und natürliche Art und Weise schön sein konnte und kam sich wie ein Freak vor.
„Hier versteckst du dich", hörte sie plötzlich hinter sich und Tobi stand da, ein paar Meter von ihr entfernt. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, versuchte, beschäftigt auszusehen.
„Mhm", machte sie, ohne sich umzudrehen.
„Cleo hat gemeint, dass du wie ein Geist ausgesehen hast, als du gekommen bist. Geht's dir gut?"
Die Glasflaschen in ihrer Hand machten ein klirrendes Geräusch, als sie sie verräumte. Gerade hätte sie alles dafür getan, dass er abhaute und sie in Ruhe ließ. Wahrscheinlich wäre er der Letzte, der kein Verständnis für ihre Situation aufbringen würde, aber die Schmach, die absolute Kränkung, die hatte sie ja selbst noch nicht einmal richtig realisiert. Die sickerte stattdessen langsam in ihr Inneres. Jedes Mal, wenn sie an all die Situationen mit ihm dachte. Lügen über Lügen. Dass sie Tobi, oder gar Cleo, mit ins Boot holen würde, erschien ihr wie die dümmste Idee des Jahrtausends.
„Ich hab einfach nur scheiße geschlafen. Bin gleich soweit."
Ihre Stimme war am Ende abgebrochen, weil ihre Augen sich von ganz allein mit Tränen füllten und ihr Hals immer noch wehtat. Sie versuchte, sich so leise wie möglich zu räuspern und schluckte das Kratzen herunter, während Tobi immer noch da war. Er machte sich Sorgen, das hatte sie schon an seiner Stimme gehört. Und kurz hatte sie Angst, dass er die zwei Schritte zwischen ihnen auffüllte und neben ihr stehen würde, ihr rotes Gesicht sehen würde und dann diesen mitleidigen und gleichzeitig sorgenvollen Blick aufsetzen würde. Das hätte sie nicht ertragen. Aber dann kam nur ein „Alles klar" zurück und sie hörte, wie er sich von ihr weg bewegte. Als sie dann die schwere Tür zuknallen hörte, fing sie an zu schluchzen. Es fühlte sich an, als hätte ihr Körper nur darauf gewartet, dass die Luft rein war und dann ein Eigenleben entwickelt. Hastig fing sie an zu atmen. Sie konnte nichts dagegen tun, es überrannte sie einfach, ließ ihren Brustkorb zusammenzucken und brachte sie schließlich dazu, wieder wegen ihm zu heulen. Nur dieses Mal fühlte es sich anders an. Die letzten zwei Tage war es das Selbstmitleid gewesen, der Schmerz. Jetzt war sie wütend. Scheiß wütend auf sich selbst. Weil sie so dumm gewesen war und ihm blind vertraut hatte. Wahrscheinlich hätten drei beschissene Klicks auf Google gereicht und sie hätte sich all das ersparen können. Aber nein, sie wollte es ja anders machen. Anders als all die anderen Leute. Sie wollte die ungezwungene, coole Smilla sein, die keine Ansprüche stellte und bloß nichts über ihn wissen wollte. Die Smilla, die all die anderen Leute für bescheuert hielt, weil die sich auf Beziehungen einließen und sich dabei doch immer eigentlich nur selbst aufgaben. Die zu einem Neutrum wurden, wenn sie in einer Beziehung waren, weil sie mit ihrem Partner verschmolzen. Keine eigenständige Person mehr waren. Sie hatte sich geschworen, dass sie nie so sein würde. Nie so verzweifelt. Dass sie einen Teufel tun würde und kein Mann auch nur den Hauch einer Chance hatte, in ihr irgendetwas ins Wanken zu bringen. Doch das war passiert, mit ihm. Mit Felix. Und das fühlte sich jetzt schlimmer an, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.
„Fick dich doch", sagte sie krächzend in den leeren Raum. Aber nur für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, dass es besser war.

Sie hatte die Zähne zusammengebissen und bis zum Feierabend durchgehalten. Eine Gruppe Männer hatte angefangen sich auf der Tanzfläche zu prügeln und eine junge Frau hatte die Toilette vollgekotzt, sodass sie gut zu tun hatte und die Zeit schnell rumgegangen war. Aber jetzt wollte sie einfach nur ins Bett. Ihr Kopf wummerte, wenn sie sich zu schnell bewegte und so ging sie die Treppen heute nur im Schneckentempo nach oben. Normalerweise rauchte sie auch noch eine, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte, aber danach war ihr heute nicht. Sie huschte in die U-Bahn Station und hatte Glück, ihre Bahn fuhr gerade ein und sie setzte sich in eine der Vierergruppen, schloss für einen kurzen Moment die Augen und wartete, dass der Kopfschmerz besser wurde.

Gerade Tobi hatte sie heute nicht aus den Augen gelassen. Er wusste, dass etwas nicht stimmte. Er hatte da ein besonderes Gefühl für, schließlich kannte er sie besser als jeder andere. Manchmal verfluchte sie, dass ihr Bruder auch gleichzeitig ihr Geschäftspartner war, weil die Grenze zwischen Privatleben und Beruf verschwamm. Nein, eigentlich gab es überhaupt keine. Sie verbrachten neunzig Prozent des Tages zusammen, sie hatte keine Chance, ihm und seiner brüderlichen Intuition zu entkommen. Aber sie würde es versuchen. So lange wie möglich.

Es waren nur eine Handvoll Haltestellen bis zu ihr nach Hause, sie überlegte sich noch etwas vom Bäcker in dem kleinen Bahnhof zu holen, aber bei dem Gedanken an Essen wurde ihr schlecht. Also ging sie mit leeren Händen die Stufen nach oben und sah, nachdem sie ein paar Meter gegangen war, Felix' Mercedes am Straßenrand stehen, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt.
Sie hielt ihren Blick nach vorne gerichtet und tastete in ihrer Jackentasche nach dem Haustürschlüssel, umklammerte ihn fest und steckte ihn dann eilig ins Schloss. Sie hörte seine Autotür auf und wieder zugehen, seine Schritte auf dem Asphalt, aber sie war nicht schnell genug, plötzlich war er hinter ihr.
„Warte mal."
Sie biss die Zähne aufeinander, rüttelte an der Türklinke, aber weil sie zu hektisch war, schien das Schloss zu klemmen, der Schlüssel ließ sich nicht drehen. Aber sie wollte ihn nicht sehen. Sie wollte ihn nicht mal ins Gesicht schauen. Weil sie trotz der Wut und Enttäuschung Angst hatte, schwach zu werden, auch wenn das utopisch war. Natürlich würde sie nicht schwach werden. Nicht vor ihm heulen. Dafür war das, was er getan, oder auch nicht getan hatte, viel zu schwerwiegend. Utopisch von ihm, dass er dachte, dass sein Auftauchen irgendwas ändern, oder besser machen würde. Und dass er überhaupt die Nerven hatte, hier aufzuschlagen, vor ihrer Wohnung, in die sie immer geflüchtet waren, weil in seiner ja schließlich Frauchen gewartet hatte.
Als der Schlüssel endlich einrastete und die Tür aufging, schob er sich plötzlich vor sie in den schmalen Eingang und hielt mit seiner Hand die Türklinke fest, auf der noch ihre Hand lag. Jetzt war sie gezwungen, ihn anzusehen. Er stand so dicht vor ihr, dass sie gar keine andere Möglichkeit hatte.
„Bitte.", sagte er ernst. Er wirkte übermüdet, es war nicht seine Uhrzeit, das war's noch nie gewesen. Aber Smilla hatte kein Mitleid. Da war nur diese absolute Leere in ihr.
Sie zog ihre Hand unter seiner hervor und ging einen Schritt nach vorne um ihn abzudrängen, damit sie durch den schmalen Spalt passte, der da noch zwischen Tür, der Hauswand und ihm war, aber dann hielt er die Tür an der Seite fest, sodass sein Arm wie eine Schranke den Weg versperrte.
„Sie ist meine Exfreundin. Und ich hab dich angelogen, ja. Aber da ist nichts mehr.", er sah sie mit festem Blick an, "Lass mich das erklären. Du kannst danach immer noch entscheiden, was du machst, aber hör mir wenigstens zu."
In ihrem Inneren spannte sich alles an. Hinter ihrer Stirn hämmerte der Kopfschmerz. Da war sie wieder. Die Wut. Aber sie würde ihn nicht anschreien, keine Szene machen. Das war er einfach nicht wert. Keine verdammte Träne, nicht mal ein Gedanke. Sie hob ihr Kinn in seine Richtung, hielt seinen Blick auf ihrem Gesicht aus und sprach leise, aber bestimmt.
„Wenn du hier noch einmal auftauchst, zeig ich dich an."

Nachtleben [Felix Lobrecht FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt