16. Hannes - ein Fehler

296 45 17
                                    

Ernüchternd.

Ja, das traf diesen Abend wohl am besten. Nun stand ich hier in meinem Rückzugsort und strich sanft über die Deckel meiner Flaschensammlung. Welcher Single Malt würde der krönende Abschluss für dieses Desaster sein? Ein Ire, ein Kanadier, ein Schotte? Meine Finger hielten inne. Glitten ein paar Zentimeter zurück, nur um zuzupacken und eine der Flaschen hervorzuholen. Ich strich liebevoll über die schlichte, silberne Schrift. „Smokehead 18 Jahre Extra Black", ja, der wäre der Richtige für heute Abend. Schwarz und rauchig, wie meine Stimmung selbst. Also öffnete ich den Verschluss, roch an dem Duft, der meine Nase kitzelte.

„Ihr meine Schätzchen werdet mich nie enttäuschen, nicht wahr?", flüsterte ich seufzend und goss mir eines meiner schweren Kristallgläsern halb voll. Verschloss die Flasche und ließ mich auf meinen Zweisitzer nieder. Nippte an meinem Glas und ließ die brennende Flüssigkeit meine Kehle hinabrinnen. Wärme breitete sich in mir aus. Floss meine Kehle hinab, sammelte sich in meinem Bauch. Wärme, nach der ich mich sehnte. Wärme, wo sonst nur Kälte herrschte. Kälte und Einsamkeit.

Die Tür knarzte, aber ich ließ die Augen zu und lehnte mich zurück. Genoss den weichen Stoff und versuchte, mich wenigstens für eine Sekunde geborgen zu fühlen. Aufgefangen zu werden in meinem stetigen Fall. Ein Fall ins Ungewisse.

Außerdem gab es nur einen Menschen auf dieser Welt, der es wagte, ohne anzuklopfen und ohne Erlaubnis mein Reich zu betreten.

Ich hörte Schritte, ignorierte sie aber völlig. Ein Klirren, ein seufzen und das Knarren der Sofafedern, als sich Benjamin neben mir niederließ. Er schwieg und doch sagte sein Schweigen mehr als tausend Worte. Seine Missbilligung war zum Greifen nah. Und seine Wut. Nicht lange und es würde aus ihm herausplatzen. Wie so oft in letzter Zeit.

„Gnade ...", flehte ich mehr, als das ich es sagte.

Ich liebte es, mich mit ihm zu streiten und ließ sonst keine Chance ungenutzt, um ihn wieder auf die Palme zu bringen. Dabei das Feuer in seinen Augen zum Lodern zu bringen, das sonst nie zum Vorschein kam. Aber in diesem Augenblick konnte ich nicht mehr. Hatte das Gefühl zu ertrinken. In Enttäuschung und Einsamkeit.

Ja, Einsamkeit.

Ein bitteres Lachen kroch meine Kehle hinauf, gab mir das Gefühl zu ersticken. Auch wenn ich nie allein war. Immer jemanden um mich hatte, in meinem Bett, in meinem Leben. Und doch fühlte ich mich allein. Die fälschliche Wärme in meinem Magen schrumpfte dahin. Fühlte sich an, als würden Eisfinger meine Eingeweide zusammen ziehen. Mich innerlich zu einem Eisklotz gefrieren. Noch fester umklammerte ich mein Glas. Hielt mich fest. Hatte Angst, mich selbst zu verlieren.

„War es das, was du wolltest?", knurrte er in die Stille und ich öffnete meine Augen. Setzte mich aufrecht hin und begegnete seinem Blick. Heute Abend konnte ich mich wohl vor keinem Schlagabtausch drücken.

„Was genau wollte ich denn?", beantwortete ich seine Frage mit einer Gegenfrage und beugte mich noch ein wenig vor. Ließ ihn nicht aus den Augen. Das sorgte dafür, dass die Meisten innehielten. Schwiegen und eingeschüchtert waren. Er nicht. Auch Ben erwiderte meinen Blick. Rückte ebenfalls ein Stück näher und sah mir direkt in die Augen. Feuer. In diesen dunkelbraunen Augen brannte es. So wunderschön. So viel Wut. So viel Gefühl. Nur wegen mir? Ein Ziehen in meinem Magen. Ein klein wenig Wärme. Echte Wärme.

„Wann ...", knurrte er zwischen den zusammen gebissenen Zähnen. Seine Gesichtszüge immer noch vor Wut verzehrt. Hatte er mir immer noch nicht verziehen? Sonst verflog seine Wut nach unseren Streitereien wie Rauch. Aber heute. Heute war irgendwie alles anders.

Ich hob die Hand. Berührte seine Schläfe. Strich ihm eine Strähne aus seinem brennenden Blick. Wärme, nein Hitze unter meinen Fingerkuppen. Die langsam in mich hinein kroch. Über meine Blutbahn in mein Innerstes floss. Mir wurde warm. Endlich warm.

„... hast du endlich genug." Fuhr er unbeirrt weiter. Seine Lippen zu einer feinen Linie verzogen. Hart und unnachgiebig. Wie sie sich wohl anfühlten? Das hatte ich mich noch nie gefragt. Aber jetzt ... Ob sie auch heiß waren? Hart und heiß?

Vorsichtig ließ ich meinen Finger nach unten Wandern. Fuhr sanft über seine Wange, seinen Mundwinkel. Sah nur noch seine Lippen.

Wie sie wohl schmeckten? Heiß und rauchig nach meinem Whiskey? Ein Kribbeln in meinem Bauch. Leben - wo zuvor nur Kälte und Leere herrschte.

War es Neugier? War es der Reiz des Verbotenen? Ich wusste es nicht, aber es fühlte sich gut an. Ein bisschen, als würde ich endlich wieder leben. Wieder Atmen können. Ironischerweise hielt ich die Luft an. Wollte diesen Augenblick nicht zerstören.

Sanft fuhr mein Daumen über seine Unterlippe. Noch mehr Hitze, die das Eis zum Schmelzen brachte. Mich in Versuchung führte. Eine Sehnsucht, die nach mir rief.

War es ein Fehler? Ich beugte mich vor. Meines Körpers nicht mehr mächtig. Ganz langsam senkte ich meine Lippen auf die Seinen. Hart, unnachgiebig, bitter und doch süß, rauchig und heiß zugleich.

Kurz, nur ganz kurz hatte ich das Gefühl, dass seine Lippen weich wurden, das er meinen Kuss erwidern würde. Aber dieser Augenblick verstricht. Stattdessen war da eine feste Hand auf meiner Brust. Die mich wegschob. Weg von der Wärme. Von der Sehnsucht des Vergessens. Und dem entkommen aus der Einsamkeit.

Eine Faust schloss sich unsanft in mein Hemd. Packte fest zu. Sorgte dafür, dass ich auf Abstand ging.

Seufzend öffnete ich die Augen. Widerwillig. Wollte einfach nicht zurück in die Realität. Wollte mich verlieren. In starken, warmen Armen. Seinen?

Feuer und Eis schlugen mir entgegen. In seinem Blick ein Aufruhr der Gefühle.

„Ich ...", zischte er wütend. „... bin nicht dein verdammtes Spielzeug!" Schubste mich nach hinten und erhob sich. Bevor ich irgendwie reagieren konnte, war Benny verschwunden.

Ob es ein Fehler war, hatte ich mich vorhin noch gefragt. Ja, doch, ganz eindeutig war es einer. Seufzend führte ich langsam das Glas mit dem vergessenen Single Malt zu meinen Lippen. Schloss die Augen, und trank es leer. Er brannte, aber die erhoffte Wärme blieb aus. Stattdessen breitete sich eisige Kälte aus.

Jetzt war ich endgültig allein.

Mr. Unvollkommen (Mr. 4)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt