Tagelang ignoriere ich alle Nachrichten und Anrufe, die auf meinem Handy eingehen. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, nachzusehen, von wem sie kommen.
Bastian erkundigt sich mehrere Male nach mir, aber irgendwann gibt er es auf, mich zu Aktivitäten überreden zu wollen. Ich bin ihm jedoch sehr dankbar dafür, dass er immer zwei Portionen kocht und mir eine davon in den Kühlschrank stellt. So muss ich nur den geringen Aufwand betreiben, die Mikrowelle einzuschalten, und sehe dann zu, wie sich das Essen darin dreht.
Am dritten Tag nach der Eskalation in der Bowling-Halle fühle ich mich mental stabil genug, die Messenger-App zu öffnen. Natürlich sind unzählige Nachrichten von Kathrin eingegangen. Ich kann nur die Vorschau der letzten sehen, aber das reicht schon aus, um das nervöse Flattern in meinem Magen hervorzurufen.
Deswegen klicke ich eilig auf den Chat, der direkt unter Kathrins angezeigt wird, und scrolle durch die Nachrichten der letzten Tage. Ben hat mir mehrere aufmunternde GIFs und Emojis gesendet. Kein einziges Mal wollte er wissen, was los ist. Alle seine Nachrichten drehen sich nur um mein Befinden oder sind Aufmunterungsversuche.
Seine letzte Nachricht hat er mir vor einer Stunde gesendet.
Ben: Möchtest du vorbeikommen? Ich bestelle uns Pizza.
Meine Finger schweben über dem Bildschirm, doch ich zögere noch. Am liebsten würde ich mich weiterhin verkriechen, aber ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Nichts wird dadurch besser. Also tippe ich eine Antwort.
Alex: Pizza klingt gut. Aber ich will lieber hier bleiben.
Keine Minute später trudelt Bens Antwort ein.
Ben: Sag mir, wohin ich sie liefern soll.
Ich bringe ein kleines Lächeln zustande und schicke ihm meine Adresse.
Als es an der Tür klingelt, quäle ich mich aus dem Bett und drücke auf den Türöffner. Träge lehne ich im Türrahmen, und als die Schritte im Treppenhaus lauter werden, sage ich: »Vielen Dank, dass Sie –« Weiter komme ich nicht, weil mir die Worte im Hals stecken bleiben.
Es ist kein Lieferdienst-Mitarbeiter, der mir gegenüber steht, sondern Ben. Er hält eine große Pappschachtel in den Händen und lächelt mich breit an.
»Eine große vegetarische Party-Pizza«, sagt er mit feierlicher Stimme. Ich kann nicht anders, als zu grinsen.
»Komm rein«, sage ich.
Als ich die Tür hinter uns schließe, fällt mein Blick in den Spiegel über dem Schuhregal. In der Erwartung des Pizzaboten habe ich mir nicht die Mühe gemacht, mich ordentlich herzurichten. Fettige Locken hängen mir ins Gesicht. Das Shirt und die Hose haben auch schon bessere Tage gesehen.
»Ich ziehe mich kurz um«, sage ich schnell. »Geh doch schon mal in die Küche.«
In meinem Zimmer ziehe ich das erstbeste saubere Shirt aus meinem Schrank und tausche die labbrige Jogginghose gegen eine Jeans. Dann bringe ich meine Haare einigermaßen in Form und tapse in die Küche, wo Ben sich schon am Tisch niedergelassen hat. Er lächelt mich an, als ich mich auf den Stuhl gegenüber setze.
Ich nehme mir ein Stück Pizza und beiße hinein. Sie schmeckt himmlisch.
»Ich war mir nicht sicher, was du an Gemüse auf deiner Pizza magst«, sagt Ben. »Deswegen habe ich einfach das ausgesucht, was ich selber mag.«
»Bist du auch Vegetarier?« Ich bin froh, dass er ein Gespräch begonnen hat, weil ich absolut nicht weiß, worüber wir reden sollen.
»Nein. Ich esse nur sehr selten Fleisch.«
Während ich kaue, erkläre ich: »Meine Schwester hat begonnen, vegetarisch zu leben, als sie vierzehn war. Dann habe ich mich auch damit beschäftigt, sehr zum Unmut unserer Eltern. Die sind sehr konservativ eingestellt und waren ziemlich empört, dass ihre Sprösslinge kein Fleisch mehr essen wollen.«
Ben nickt. »Konservative Eltern kenne ich nur zu gut.«
»Wie alt bist du eigentlich?«
»Dreiundzwanzig. Und du?«
»Einundzwanzig.«
Ich höre, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt. Nur wenige Augenblicke später steht Bastian in der Tür und sieht uns überrascht an.
»Hey, Alex. Geht's dir besser?«
Ich nicke. »Ja, danke. Möchtest du auch Pizza?«
Er nickt und gesellt sich zu uns. Da wir nur zwei Stühle besitzen, lehnt er sich mit seinem Stück Pizza an die Küchenzeile. »Bist du ein Freund von Alex?«, fragt er Ben.
Die beiden beginnen ein lockeres Gespräch, um sich kennenzulernen. Dafür bin ich dankbar, denn so kann ich mich aufs Essen konzentrieren.
»Wollen wir auf mein Zimmer gehen?«, frage ich Ben, nachdem wir die Pizza aufgegessen haben. Bastian bietet an, die Küche sauber zu machen.
Mein Zimmer ist nicht besonders groß, aber es passt alles hinein, was ich brauche. Ich biete Ben an, sich auf meinem Bett niederzulassen.
Bens Blick bleibt an dem kleinen Bücherregal hängen, das neben meinem Bett steht. »Darf ich?«
»Nur zu.«
Er beugt sich nach vorne und studiert die Bücher, die darin stehen, während ich unauffällig versuche, meinen Schreibtisch ein wenig aufzuräumen, was damit endet, dass ich alles in eine bereits volle Schublade stopfe und sie nicht mehr richtig schließen kann.
»Willst du darüber reden, was beim Bowling passiert ist?«, fragt Ben nach einer Weile.
Ich senke den Blick und betrachte meine Hände. »Ich will eigentlich nicht darüber reden, dass ich ein ziemlicher Feigling bin.«
»Sag sowas nicht.«
»Und was soll ich dann sagen? Dass ich mir nicht eingestehen will, wie erbärmlich ich bin?«
»Alex ...«
»Ich weiß, du meinst es nur gut. Aber ich kann einfach nicht besonders gut damit umgehen, dass ich auf Männer stehe.«
Jetzt sehe ich ihn doch an. Sein Blick ist mitfühlend, aber es ist ehrliches Mitgefühl und nicht vorgeheuchelt wie bei den meisten Leuten, die so tun, als interessiere sie, wie es einem geht. Mit sanfter Stimme sagt er: »Es ist nichts Verwerfliches daran, dass du Männer magst.«
»Mein ganzes Leben lang wurde mir aber etwas anderes gesagt«, erwidere ich und beiße mir auf die Unterlippe. »Wenn ich mit Kathrin Schluss machen würde, würde meine Familie ausrasten. Wenn ich ihnen dann noch offenbare, dass ich schwul bin, dann enterben sie mich. Auf finanzielle Unterstützung für mein Studium kann ich dann auch nicht mehr hoffen.«
Mittlerweile zittern meine Hände so sehr, dass ich es nicht mehr verbergen kann, also drehe ich mich ein Stück zur Seite. Doch da ist Ben bereits neben mir und greift nach meinen Händen. Ich will sie fortziehen, doch er hält mich fest, sodass ich gezwungen bin, innezuhalten.
»Hör mir zu«, sagt er leise. »Ich weiß, wie schwer es sich anfühlt, sich etwas einzugestehen, das man am liebsten tief vergraben und vergessen würde. Es ist nicht leicht, anders zu sein, als es die Menschen um einen herum erwarten. Aber wenn du dich verstellst und so tust, als wärst du jemand anderes, als du wirklich bist, dann schadest du dir selbst am allermeisten.«
In seinen Augen glitzert es. Er klingt so ernst, dass mir ganz schwer ums Herz wird.
»Ich akzeptiere dich so, wie du bist«, flüstert er, zieht mich auf die Beine und lächelt mich an.
Das zu hören, tut so unendlich gut. Ich kann nicht anders, als ihn ebenfalls anzulächeln, und schlinge aus einem Impuls heraus meine Arme um ihn.
»Danke, Ben«, murmle ich in sein Ohr. Er drückt mich fest an sich, und ich fühle mich sicher in seinen Armen. Als könnte mir in diesem Moment nichts auf der Welt etwas anhaben.
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Alive - Alex & Ben
RomanceAlex ist zufrieden mit seinem Leben. Sein Studium macht ihm Spaß und er hat eine tolle Freundin. Eigentlich hätte alles so schön sein können - eigentlich. Bis er Ben kennenlernt, der in Alex etwas auslöst, das er sich nicht eingestehen will. Alex ve...