Kapitel 1 - Eine Zugfahrt und eine neue Freundin

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Lucy sah zum Fenster hinaus. Der Regen klatschte gegen die Scheibe und so konnte sie nur verschwommen die Telegraphmasten an ihr vorbeifliegen sehen. Das Rattern des Zuges machte es schier unmöglich einzuschlafen, also begnügte sie sich damit, die vom Regen verschwommene Landschaft zu betrachten. Wenn sie darüber nachdachte, dass sie sich vor kurzem noch auf den Bootsausflug mit ihren Eltern gefreut hatte...

Kaum wurde sie nur im Entferntesten daran erinnert, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Vor gerade mal zwei Tagen bestieg sie, ihre Mutter Sophia und ihr Vater Herold den großen Raddampfer. Keine Stunde, nachdem sie abgelegt hatten, entfachte ein Feuer an Deck und viele Passagiere starben in den Flammen, so auch ihre Eltern. Sie war jetzt alleine und fuhr deshalb nach Saint Tudwals, einer Insel am Westufer von Wales zu ihrem Onkel John Screwball, der dort ein großes Anwesen besaß. Sie würde bei ihm leben, bis man ihren Vormund Agarta Winterbutton ausfindig gemacht hatte, denn diese hatte die seltsame Eigenschaft ganz plötzlich zu verschwinden, wenn sie gebraucht wurde. So konnte Lucy damit rechnen, das restliche Jahr bei ihrem Onkel zu verbringen, der im Allgemeinen als leicht verrückt galt und von den Bewohnern Sait Tudwals eher gemieden wurde.

Ohne dass sie es bemerkt hatte, war es draußen dämmrig geworden und die Lichter in den einzelnen Abteils waren flackernd angegangen. Die alte Frau namens Mrs. Teach, die gegenüber von Lucy saß, hatte ihre kleine Tasche aus Leder und ihren Fellmantel vom Sitz neben ihr genommen und war aufgestanden. "Viel Glück, Liebes", verabschiedete sie sich und keine Minute später begann der Zug abzubremsen, bis er schließlich im Bahnhof von Hereford hielt. Mrs. Teach verließ das Abteil und Lucy war allein.

Der Regen klatschte noch immer gegen die Fenster und nahm ihr jegliche Sicht nach draußen. Plötzlich grellte von weit her ein Pfiff und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Etwa zehn Minuten nachdem die Lock aus dem Bahnhof gefahren war, wurde die Abteiltür aufgeschoben und ein zierliches Mädchen mit, zu zwei langen Zöpfen geflochtenem blondem Haar und einem blauen Matrosenkleid trat ein und zog dabei einen großen schwarzen Koffer hinter sich her. "Hallo", meinte es schüchtern und ließ sich auf die Bank gegenüber von Lucy fallen. "Hallo", erwiderte diese und betrachtete die rauen Hände des Mädchens, "Wie heißt du? Ich bin Lucy. Lucy Adams." "Ich... ich heiße Marie." Lucy nickte als Antwort und sah wieder nach draußen. So saßen die beiden Mädchen still gegenüber, ohne ein Wort zu sagen, jeder zu schüchtern, um den anderen anzublicken.

"Wohin fährst du?", fragte Marie nach einiger Zeit so leise, dass Lucy sich zuerst nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte. "Ich steige in Abersoch aus und besuche meinen Onkel", gab sie als Antwort. "Wirklich? Lilian wohnt jetzt dort, sie schreibt mir immer Briefe", meinte Marie und sah Lucy interessiert an. Diese zog die Augenbrauen zusammen. "Wer ist Lilian?" "Oh, ich hatte ganz vergessen, dass du sie gar nicht kennst. Sie war eine Freundin von mir im... im Waisenhaus, bevor sie letztes Jahr zu einer neuen Familie gekommen ist." "Du bist eine Waise?" Marie nickte und starrte angestrengt auf die Spitzen ihrer Schnürstiefel, nur um nicht Lucys Reaktion sehen zu müssen. "Das tut mir leid", sagte diese nach einer Weile. Marie schaute auf und lächelte halbherzig. "Naja, es ist schon lange her und jetzt bin ich auf dem Weg zu meiner neuen Familie, also..." "Das ist schön. Ich wünschte ich könnte mich auch so auf mein Reiseziel freuen." "Weshalb? Magst du deinen Onkel etwa nicht?" "Hm, sagen wir einfach, er ist etwas eigenartig", erwiderte Lucy und zuckte mit den Schultern, "Aber ich kann es nicht ändern und muss das Beste daraus machen." "Du hast doch sicher Freunde, dort wo du hinfährst", versuchte Marie, Lucy aufzuheitern. "Ähm, nein nicht wirklich. Genau genommen lebt dort fast keiner." "Oh, das ist blöd. Aber weißt du was? Du kannst mir doch schreiben, dann ist dir bei deinem Onkel nicht so schrecklich langweilig!" "Meinst du das ernst?", fragte Lucy zweifelnd. Sie kannte dieses Mädchen doch erst seit etwa einer Stunde. "Klar, ich würde gerne etwas von deinem verrückten Onkel hören." Marie lächelte und sah dabei so zuversichtlich aus, dass Lucy beschloss, ihr Angebot anzunehmen. "Na gut, schreib mir die Adresse auf." Von da an unterhielten sich die beiden prächtig und Lucy konnte es plötzlich kaum mehr abwarten, den ersten Brief an ihre neue Freundin zu schreiben.

Der Zug ratterte weiter durch die Landschaft und es wurde immer dunkler und dunkler. Der Regen lies etwas nach, doch noch immer hörte man das leise Trommel der Regentopfen. Die flackernden Deckenlampen in den Abteilen und am Gang tauchten den gesamten Zug in warmes Licht. Im Gegensatz dazu war die Nach draußen vor dem Fenster so undurchdringlich, dass Lucy nicht einmal die Sterne oder den Mond sehen konnte. Gedankenverloren betrachtete sie ihr Spiegelbild an der pechschwarzen Scheibe. Ihr gelocktes dunkelbraunes Haar fiel ihr über die Schultern bis zur Mitte ihres Rückens und ihr Pony, der fast zur Gänze ihre grünen Augen verdeckte, hatte ihrer Mutter schon oft Kummer bereitet.

"Deine Haare hängen dir schon wieder in die Augen, Lucy-Schatz", hatte sie immer gesagt, "Wann lässt du sie mir endlich schneiden?" Doch Lucy hatte sich immer mit Händen und Füßen gewehrt, wenn ihre Mutter mit der silbernen Schere kam. Nun bereute sie es, sich so oft dem Willen ihrer Eltern widersetzt zu haben. Sie bereute generell Vieles, dass sie nun nicht mehr rückgängig machen konnte.

Ein lautes Quietschen erfüllte die Nacht und der Zug begann, abermals abzubremsen. Lucy sah zum Fenster hinaus und erkannte viele helle Lichter. Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen und Marie erhob sich. "So, hier muss ich aussteigen", sagte sie und blieb unschlüssig in der Tür stehen, "Es hat mich gefreut dich kennengelernt zu haben, Lucy Adams. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder." Lucy ergriff die Hand, die ihr Marie entgegenstreckte und nickte zustimmend. "Bestimmt. Viel Glück bei deiner neuen Familie." Marie strahlte sie an und winkte noch einmal, bevor sie endgültig das Abteil verließ. Kurze Zeit später setzte sich die gewaltige Dampflock wieder in Bewegung. Als Lucy zurückblickte, sah sie das Ortsschild von Birmingham vorbeifliegen.

Die Fahrt ging weiter und obwohl sie sehr müde war, konnte sie kein Auge zu tun. Nach einiger Zeit kam ein älteres Ehepaar zu ihr ins Abteil. "Hallo mein Kind", meinte die in die Jahre gekommene Dame, als sie sich neben ihrem Gatten auf der Sitzbank niederließ, "Wie heißt du denn?" Lucy nannte ihren Namen und das Ehepaar stellte sich als Mr. und Mrs. Gaunt vor. Mr. Gaunt war, wie sie bald feststellte, nicht sehr gesprächig. Meist starrte er nur stumm aus dem Fenster oder nickte zustimmend. Seine Gattin jedoch, redete dafür umso mehr.

Wie ein Wasserfall erzählte sie Lucy von ihren beiden Enkelkindern, die in Oxford studierten - der eine Medizin, der andere Naturwissenschaften - von ihrer Kaffeekränzchenrunde am Samstag mit ihren Freundinnen und dem letzten Urlaub im vergangenen Sommer in Frankreich. "Weißt du, Liebes. Ich habe meinen Kindern immer gepredigt, etwas aus sich und ihrem Leben zu machen und voilà - der eine ist Leibarzt des Dukes und der andere Goldschmied des Hauses Armstrong." Sie zählte noch eine Reihe weiterer Adelshäuser des gesamten Königreiches auf und Lucy begann ernsthaft an der Glaubhaftigkeit ihrer Erzählungen zu zweifeln.

Der Morgen dämmerte bereits, als sie endlich in Abersoch ankam. Es war keine richtige Stadt, doch konnte man es sehr wohl als großes Dorf bezeichnen. Der Wind pfiff durch die kleine Bahnhofsstraße und fegte Lucy den marineblauen Hut vom Kopf. Fluchend stellte sie ihren Koffer ab und setzte ihm nach.

So, dass ist das erste Kapitel meiner Story, die hoffentlich etwas länger wird, als die anderen. Ich würde mich über Feedbacks und Votes freuen! :)

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