Kapitel 4 - Der Leuchtturm und eine Postkarte

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Ein warmer Sonnenstrahl fiel durch die nur halb zugezogenen Vorhänge. Lucy drehte sich murrend auf die andere Seite und vergrub ihr Gesicht in den weichen Kissen.  So verharrte sie und lauschte. Durch eines der offenen Fenster hörte sie das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Meeres, denn die Küste lag nicht weit entfernt von McAlder. Auf dem Korridor vor ihrer Tür hörte sie die Schritte eines Dienstboten, die durch die weichen Teppiche gedämpft wurden. Die Tür neben ihrem Zimmer wurde geöffnet und sie hörte die Stimmen von zwei Hausmädchen, die sich allem Anschein nach stritten. "Nein, ich sagte doch ich werde das nicht tun!", meinte eine der beiden herrsch, "Außerdem hat Mrs. Corey gesagt, dass ich mich um das Zimmer der jungen Lady kümmern soll, sobald sie aufgewacht ist. Du musst schon selbst sehen, wie du zurecht kommst!" Lucy hatte keine Ahnung, wer Mrs. Corey war, doch vermutete sie, dass es sich hierbei um die oberste Hausdame handeln musste. "Bitte Ava, es dauert ja nicht lange!", bettelte die zweite Stimme verzweifelt, "Ich schaff es nicht allein und Mrs. Corey lässt mich die restliche Woche die Topfe unten in der Küche schrubben, wenn ich nicht bis Mittag fertig bin!"

Auch wenn Lucy Ava und das andere Hausmädchen nicht sehen konnte, so spürte sie förmlich, wie ihre persönliche Kammerzofe genervt die Augen verdrehte. "Meinetwegen, aber wehe ich bin nicht zurück, bevor Lady Lucy wach ist", gab sie sich schließlich geschlagen. Lucy hörte, wie sie die Tür schlossen und den Korridor hinunter zur großen Treppe gingen.

Sie seufzte und hob ihr Gesicht, nur um im selben Augenblick die Augen fest zu zukneifen. Das Sonnenlicht blendete sie, gewöhnte sich jedoch schnell daran und setzte sich schließlich auf, um sich zu strecken. Dennoch beschloss sie so zu tun, als würde sie noch schlafen, um Ava nicht in eine missliche Lage zu bringen. Auf ihrem Nachttisch lag ein Buch, dass sie am letzten Abend noch aus ihrer Tasche geholt hatte, mit der festen Überzeugung, vor dem Einschlafen noch etwas zu lesen. Sie war jedoch so müde gewesen, dass sie es einfach vergessen hatte. Jetzt nahm sie es vom Tisch und schlug die erste Seite auf. Der Titel lautete Die Schatzinsel. Ihre Tante schenkte es ihr im vergangenen Jahr zu Weihnachten, doch sie war noch nicht dazu gekommen, es zu lesen.

"Baron Trelawney, Dr. Livesey und meine anderen Freunde haben mich gebeten, die Geschichte der Schatzinsel von Anfang bis zu Ende niederzuschreiben und nichts als die geographische Bestimmung der Insel, auf der sich noch immer unermessliche Schätze befinden, zu verschweigen. Ich ergreife daher die Feder und gehe bis auf die Zeit zurück, wo mein Vater das Wirtshaus Zum Admiral Benbow hielt, und der sonnenverbrannte alte Seemann mit der schrecklichen Säbelnarbe sein Quartier unter unserem Dach aufschlug..."

Immer mehr vertiefte sie sich in die Geschichte des jungen Jim Hawkins, der unfreiwillig in eine Meuterei unter Piraten verwickelt wird. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür und Ava trat ins Zimmer. "Guten Morgen, Miss", meinte diese und zog die Vorhänge beiseite, sodass der Raum nun endgültig vom strahlenden Sonnenlicht erhellt wurde, "Ihr Onkel erwartet Sie im Speisesaal zum Frühstück." Lucy legte widerwillig ihr Buch zur Seite und stand auf. Ava suchte ihr währenddessen ein langes weißes Spitzenkleid mit vorne einer rosafarbenen Masche und den passenden Schuhen heraus.

Nachdem Lucy fertig angezogen war, begleitete sie Ava hinunter in den Speisesaal. Der gesamte Raum wurde von einer langen Tafel beherrscht, an dessen Kopfende Mr. Screwball saß und die Tageszeitung studierte. Lucy nahm zu seiner Linken Platz. "Guten Morgen, Lucy", sagte ihr Onkel und faltete die Zeitung einmal in der Mitte, bevor er sie neben seinen Teller legte, "Ich hoffe doch, du hast gut geschlafen?" "Ja, danke. Ich war gestern ziemlich müde von der langen Reise."

Während sich Lucy weiterhin mit ihrem Onkel unterhielt, brachten zwei Hausdiener das Frühstück. Es gab schwarzen Tee mit Milch, gebratenen Speck und Rührei, Haferbrei und verschiedenes Gebäck mit Zitrusmarmelade. Mr. Screwball hatte mittlerweile wieder die Zeitung aufgeschlagen und studierte sie eingehend, nur unterbrochen von dem gelegentlichen Nippen an seiner Teetasse. "Unglaublich...", murmelte er, "Das Schiffsunglück am East River war wohl nicht genug..." "Was ist den, Onkel?", fragte Lucy und legte ihre Gabel beiseite. "Nichts wichtiges, nur der russische Generalgouverneur...", antwortete dieser ausweichend. "Was ist den mit ihm?" "Es hat ein Attentat gegeben, bei dem er schwer verletzt wurde. Die Morgenausgabe der Times schreibt, dass er heute Morgen seinen Verletzungen erlegen sei." "Das ist ja furchtbar!", rief Lucy aus. Ihr Onkel nickte zustimmend. "Ja, da magst du Recht haben, mein Kind. Aber wir sollten am Frühstückstisch nicht über solche Themen sprechen." Er übergab die Zeitung Mr. Burton und bestrich sich ein Brot mit Marmelade. "Ich dachte, ich könnte dir heute etwas die Gegend zeigen. Es ist doch schon einige Jahre her, seit du hier warst", meinte Mr. Screwball, "Es hat sich einiges verändert."

Der geheime Garten#EtherealAward17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt