Kapitel 8 - Mr. Poe

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Erleichtert atmete sie aus. Warum zum Teufel verfolgte sie dieser Geist!? Sie hatte ihm nichts getan, hatte ihn nicht provoziert, hatte ihm nichts gestohlen... außer. Lucy riss die Augen weit auf, als es ihr einfiel - der Stofffetzen! Sie hatte ihn aus dem Leuchtturm mitgenommen. War das der Grund, weshalb ihr diese Frau immer folgte? Sie wusste es nicht, doch sie beschloss, diesen Fetzten Stoff so bald wie möglich zurück in den Leuchtturm zu bringen. Auf eine weitere Begegnung mit diesem Geist war sie nicht gerade aus.

Noch immer unruhig, trat sie vom Fensterweg. Lucy wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis die Frau erneut auftauchte. Vorsichtshalber schloss sie die Vorhänge und lies eine Kerze brennen, die sie auf ihren Nachttisch stellte. Dann schlüpfte sie unter ihre Bett und starrte an die Zimmerdecke. Diese zwei Begegnungen hatten Lucy derart in Angst versetzt, dass sie sich nicht traute, die Augen zu schließen. Denn jedes Mal, wenn sie dies tat, tauchte die schreckliche Grimasse der Frau in ihrem Kopf auf, wie sie sie aus leeren Augenhöhlen heraus anstarrte, den Mund zu einem schrecklichen Grinsen verzogen.  

Jedes Mal kroch ihr eine Gänsehaut die Arme hinauf, jedes Mal glaubte sie, die Grillen hätten wieder aufgehört ihr abendliches Lied zu singen. Dann setzte sie sich ruckartig auf und lauschte. Hielt den Atem an und lies sich erleichtert wieder in die Kissen sinken, wenn sie das leise Trillern hörte. Die halbe Nacht lang, lag Lucy wach. Abwechselnd verfolgt von der Angst, der Geist sei wieder aufgetaucht und der Erleichterung, die sie überkam, als sie feststellte, dass dem nicht so war.

Schließlich musste sie doch eingeschlafen sein, denn ein lautes Klopfen an ihrer Tür riss sie aus dem Halbschlaf. "Sind Sie schon wach, Miss?", fragte Ava, als sie mit dem Reitkostüm von Lucy über dem einen Arm, eintrat. Lucy setzte sich auf und rieb sich verschlafen die Augen. "Wie spät ist es?", fragte sie die Kammerzofe, die das Gewand auf den samtbezogenen Hocker legte. "Kurz nach neun Uhr, Mylady. Sie wünschten heute auszureiten." "Natürlich, natürlich, ich danke dir Ava. Bitte sag meinem Onkel, ich würde noch schlafen, er soll sich nicht verpflichtet fühlen, mich zu begleiten." "Gewiss, Mylady", antwortete Ava und verlies das Zimmer mit einer Verbeugung. Lucy stieg aus dem Bett und tappte barfuß zu ihrem Spiegeltisch hinüber. Dort setzte sie sich auf den Stuhl und begann sich die Haare zu kämmen. Danach schlüpfte sie in das lange, hochgeschlossene grüne Kleid und die braunen Lederstiefel. Den dunkelgrünen Hut, den ein schwarzes Samtband schmückten, nahm sie in die Hand.

Leise schlich sie sich aus ihrem Zimmer und durch die Gänge des Anwesens. Einmal begegnete sie Theo, einem jungen Kammerdiener, der ein Silbertablett mit Weingläsern von der Bibliothek im zweiten Stock hinunter in die Küche trug. "Mylady", sagte er und verbeugte sich. "Schhhh", meinte Lucy und legte einen Finger auf ihre Lippen, "Ich möchte nicht, dass mein Onkel von meinem Ausflug erfährt." "Natürlich, Mylady", antwortete Theo und verbeugte sich ein zweites Mal. Lucy lächelte ihn an und ging die große Treppe hinunter in die Eingangshalle.

Draußen  vor den Pferdeställen wartete ein Stallbursche mit ihrem Hengst Raven auf sie. "Bitte sehr Mylady, Ava hat mich in alles eingeweiht. Ihr Onkel wird nichts davon erfahren", meinte er und überreichte Lucy das Zaumzeug. "Ich danke dir", antwortete sie, stieg in den Sattel und ritt los, den Feldweg hinter dem Anwesen entlang. Zuerst wurde er von weitläufigen Weizenfeldern gesäumt, bevor er durch ein Stück Wald führte, in dem Lucy früher immer mit ihren Eltern spazieren gegangen war. Einmal hatte sie sogar einen Fuchs gesehen, der etwas abseits zwischen zwei Buchen gestanden und sie lautlos beobachtet hatte.

Es war ein schöner sonniger Tag, wenngleich die Temperatur nicht sonderlich hoch war. Doch das störte Lucy nicht. Die Sonnenstrahlen drangen vereinzelt durch das dichte Blätterdach und malten lauter helle Flecken auf den mir Nadeln und Laub bedeckten Waldboden. Sie hörte das stete Klopfen eines Spechts, das in einem Echo durch den Hain hallte. Die Blätter der Eichen raschelten in der kühlen Briese, die durch die Wipfel der Bäume strich. Lucy sog tief die Luft ein. Es war so herrlich ruhig hier, als gäbe es nichts böses auf dieser Welt und für einen kurzen Moment vergaß sie sogar den Geist, der sie in der vergangenen Nacht so lange wach gehalten hatte. Raven schnaubte, während er gemütlich den Weg entlang trottete. "Ist ja gut mein Lieber, bald sind wir bei Mr. Poe. Du freust dich bestimmt auch, ihn wieder zu sehen, nicht wahr?" Lächelnd tätschelte Lucy den Hals ihres Pferdes.

Wenige Zeit später erreichte sie eine Abzweigung. Der Weg, der nach rechts führte, lichtete sich weiter vorne etwas und Lucy hörte das Rauschen des Meeres, das nun nicht mehr weit entfernt war. Sie jedoch nahm den Linken, zu dessen beiden Seiten die Bäume dichter beieinander standen. Sie ließen weniger Licht hindurch und so wirkte der Wald etwas düster. Lucy störte das jedoch nicht. Sie kannte den Wald, genauso wie sie diesen Weg kannte und sie wusste, dass er zu dem kleinen Haus von Mr. Poe führte, ein alter Mann, der allein im Wald lebte und beinahe noch seltsamer war als ihr Onkel.

Bald darauf kam sie auf eine kleine Lichtung, auf der ein Häuschen aus Steinen gebaut stand, mit einer tannengrün gestrichenen Tür, Fensterläden aus Eichenholz und einer langen Efeuranke, die die rechte Seite des Häuschens hinaufkletterte. Lucy stieg von ihrem Pferd und band die Zügel um einen Baum der am Rand der Lichtung stand. Dann strich sie ihr Kleid glatt und schritt auf die Tür zu. Laut klopfte sie mit dem Messingring, der neben der Türklinke angebracht worden war, gegen da massive Holz. Sie wartete einen Moment, bevor ein alter Mann, mit weißem halblangen Haar und schon etwas trüben Augen öffnete.

"Ja bitte?", sagte Mr. Poe und sein von tiefen Falten eingerahmter Mund verzog sich zu einem herzlichen Lächeln, als er Lucy erkannte. "Miss Lucy, was für eine freudige Überraschung. Möchten Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?", fragte er. "Es wäre mir ein Vergnügen, Mr. Poe", erwiderte Lucy und trat ins Haus. Sie zog sich ihre schwarzen Handschuhe aus und legte sie zusammen mit ihrem Hut auf die Kommode, die neben der Tür stand.

Mr. Poe führte Lucy nach links in einen gemütlich eingerichteten Wohnraum mit robusten Holzmöbeln und einem offenen Kamin, in dem ein warmes Feuer prasselte. Sie setzte sich an den Tisch und Mr. Poe lies Lucy kurz allein, damit er den Tee bringen konnte. Er hatte ihr einmal erzählt, er hätte alle Möbel selbst gezimmert und jeden Stein des Hauses mit eigenen Händen aufeinandergeschichtet. Lucy glaubte ihm das nicht so ganz, doch wollte sie ihn nicht kränken und lies ihm seine Überzeugung, denn er hatte die Geschichte allen Anschein nach schon so oft erzählt, dass er sie nun selbst glaubte.

Mr. Poe betrat das Zimmer mit einem Tablett auf dem sich zwei Tassen mit dampfenden Tee und ein Teller mit Scones befanden. "Bitteschön meine Liebe", meinte Mr. Poe und reichte Lucy ihre Tasse. Diese nahm sie dankend an und nippte still an dem heißen Getränk, bevor sie es zurück auf den Tisch stellte. "Sie haben mich lange nicht mehr mit ihrem Besuch beehrt", meinte Mr. Poe, der ebenfalls seinen Tee auf die Untertasse abgestellt hatte, "Ich nehme an, Sie weilen momentan auf McAlder bei Ihrem Onkel?" "Richtig, ein trauriges Ereignis veranlasste mich dazu", antwortete Lucy und nahm sich ein Scones vom Teller. "Ein trauriges Ereignis?", fragte Mr. Poe überrascht, "Darf ich fragen, was Sie damit meinen?" Lucy legte das Gebäck seufzend auf den Rand ihrer Untertasse und meinte: "Sie hörten sicher von diesem schrecklichen Schiffsunglück am East River, nehme ich an?" Mr. Poe nickte langsam und zog die Augenbrauen zusammen. "Nun, meine Eltern und ich waren ebenfalls auf dem Schiff. Mutter und Vater ließen bei diesem Ausflug ihr Leben." Die Augen des alten Mannes weiterten sich und er sah das Mädchen voller Mitgefühl an. "Es tut mir schrecklich Leid, dies zu hören, Miss Lucy. Ich mochte Ihre Eltern sehr, sie waren eine der wenigen Aristokraten, die Anstand besaßen."

Lucy nahm sein Mitgefühl mit einem betrübten Nicken zur Kenntnis und trank still ihren Tee. Durch das halb geöffnete Fenster drang das Zwitschern der Vogel ins Innere des Häuschens. Es vermittelte eine derart unschuldige Fröhlichkeit, dass es Lucy zu diesem Zeitpunkt wie ein Frevel vorkam, genauso wie die Sonne, die hell von wolkenlosen Himmel strahlte. Denn obwohl ihr Umfeld Lucy weißmachen wollte, es sei alles in Ordnung, wusste sie, dass dem nicht so wahr. Es war nichts in Ordnung, denn ihre Eltern waren tot und in jenem Moment spürte Lucy diese Tatsache mehr, als es in den letzten Tagen je der Fall gewesen war.

Der geheime Garten#EtherealAward17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt