Kapitel 10 - Wie sollt ihr mir helfen!?

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Erschrocken ließ ihn Lucy fallen. "Was ist das?", fragt sie ihren Onkel bestürzt. Dieser schüttelte nur den Kopf. "Ich weiß es nicht, Liebes", meinte er und erhob sich, "Ich werde nach Doktor Grantham schicken lassen. Vielleicht kann er uns sagen, was mit dir geschehen ist." Mr. Screwball strich seiner Nichte übers Haar und verließ anschließend das Zimmer. Lucy hatte schon eine Vermutung, woher ihre seltsame Krankheit oder was auch immer das war herrührte, doch es war einfach zu abstrus, als dass es wahr sein könnte.

John Screwball begann zu rennen, so bald er die Zimmertür seiner Nichte hinter sich geschlossen hatte. Auch er ahnte, was Lucy wiederfahren sein könnte und er betete zu Gott, dass er sich irrte. Genau dieselben Symptome hatte er schon einmal bei Mr. Robinson, dem alten Leuchtturmwärter gesehen. Diese Krankheit war der Grund für seinen Tod. Sein Körper kühlte immer weiter ab, egal wie viele Decken er um sich geschlungen hatte oder wie nahe er am Feuer saß. Wahrscheinlich wäre ihm immer noch kalt gewesen, wenn er sich direkt in die Flammen gesetzt hätte. Es war keine einfache Krankheit, es war ein Fluch. Niemand wusste, wie man ihm helfen konnte und eine Woche später fand man ihn erfroren in seinem Bett. Wie eine bleiche Statue lag er unter einem Berg von Decken, die Haut mit Raureif überzogen.

John lief noch immer ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an diesen Anblick dachte. Er konnte nur hoffen, dass es sich bei Lucy nicht um das selbe handelte, denn dann konnte er nichts mehr für sie tun.

"Suchen Sie Doktor Grantham, Sir?", fragte Burton, der am Fuß der großen Treppe stand und allem Anschein nach auf ihn gewartet hatte. "Ja, wissen Sie wann er eintreffen wird?" John bemühte sich, ruhig zu bleiben, doch der Butler bemerkte seine Unruhe, egal wie sehr er versuchte, diese zu verbergen. "Er sollte sich jeden Moment hier sein", erwiderte Burton, "Soll ich ihn sofort in das Zimmer der jungen Lady schicken?" "Das wird nicht nötig sein", meinte der Doktor, der in eben diesem Augenblick durch das große Eingangsportal in die Halle trat, "Ich begleite Sie gleich mit nach oben." Mr. Screwball nickte und überlies dem Arzt den Vortritt.

"Ich werde ganz ehrlich zu Ihnen sein, Mylord, ich weiß nicht, ob ich Ihrer Nichte helfen kann", sagte Doktor Grantham, als er neben John Screwball die Treppe emporstieg, "Wenn es das selbe wie beim alten Robinson ist, kann ich nicht viel für sie tun, außer ihr den Schmerz so erträglich wie möglich zu machen." "Dessen bin ich mir bewusst, doch ich möchte Sie dennoch bitten, nichts unversucht zu lassen, egal wie gering die Erfolgschancen auch sein mögen." Der Doktor nickte stumm, tief in seinen Gedanken versunken. "Man könnte ein Heilmittel herstellen, wenn man nur den Ursprung der Krankheit kennen würde. Aber möglicherweise interpretieren wie auch nur sinnlos in etwas hinein, dass gar nicht da ist. Zu aller erst werde ich sehen, wie es Ihrer Nichte geht. Vermutlich ist es auch nur eine leichte Sommergrippe und es ist nichts zu befürchten."

Die beiden Männer waren nun vor dem Zimmer von Lucy angekommen. Doktor Grantham öffnete die edle Tür aus Ebenholz und zog scharf die Luft ein. Eine unerträgliche Kälte schlug ihnen entgegen, so, als hätte man an einem kalten Dezembertag vergessen, die Fenster zu schließen. Mr. Screwball und der Arzt traten ins Zimmer und sahen Lucy zusammengekauert auf ihrem Bett sitzen. Rund um sie herum war die Decke mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Die Fenster waren mit Eisblumen überzogen und die Vorhänge sowie der große Teppich vor Lucys Bett mit Raureif bedeckt. Der Atem der beiden Männer gefror in der kalten Luft und schwebte einige Augenblicke lang als kleine Wolke vor ihrem Gesicht.

"Mein Gott", murmelte der Doktor und stellte seine Arzttasche auf den Boden. Vorsichtig trat er an das Bett heran. Lucy hatte die Arme um ihre Knie geschlungen und wimmerte leise vor sich hin. Als sie bemerkte, dass sie nicht mehr alleine war, schreckte sie hoch und rückte panisch ein Stück zurück, bis sie mit dem Rücken an das Kopfteil des Bettes stieß. "Nein... bitte, nicht...", sagte sie und starrte Doktor Grantham flehend an. "Ich tue dir doch nichts, Kind", meinte dieser und wollte die Hand nach ihr ausstrecken. Doch Lucy sprang auf und rannte quer durch das Zimmer zu den Fenstern, wo sie sich ängstlich an die Wand drückte. Wo sie den Boden mit ihren nackten Füßen berührt hatte, zierten ihn nun Eisblumen und auch an der Wand hinter ihr überzog eine schimmernde blaue Eisschicht die kunstvoll verzierte Tapete. Lucy schrie erschrocken auf, als sie es bemerkte und trat einen Schritt von der Wand weg.

"Was ist bloß los mit mir?", fragte sie verzweifelt. "Ganz ruhig, Lucy-Kind", meinte ihr Onkel und ging vorsichtig auf sie zu, "Wir wollen dir helfen." "Wie sollt ihr mir helfen!? Alles was ich berühre wird zu Eis!", schrie Lucy. Tränen sammelten sich in ihren Augen und bahnten sich einen Weg ihre Wange hinunter, doch bevor sie Lucy beiseite wischen konnte, waren sie schon gefroren. "Alles, einfach alles", schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen, "Egal was ich anfasse, es gefriert sofort, sogar meine Tränen!"

Mr. Screwball warf Doktor  Grantham einen hilfesuchenden Blick zu. Dieser wandte sich an Lucy. "Leg dich doch erst einmal wieder in dein Bett, dann sehen wir weiter", meinte er und wollte ihr die Hand reichen. Doch sie schüttelte nur den Kopf und tapste zurück zu ihrem Schlafplatz. "Ich habe Angst, dass ich euch weh tun kann, wenn ich euch berühre", sagte Lucy leise und wieder einigermaßen gefasst, als sie unter die dicke Daunendecke schlüpfte. "Das verstehen wir", antwortete der Doktor, "aber du musst uns dir helfen lassen." Lucy schluckte schwer, nickte aber artig. "Vielleicht schicken Sie nach dem Dienstmädchen", fuhr der Arzt an Mr. Screwball gewandt fort, "Sie soll ihrer Nichte etwas Gesellschaft leisten." John nickte und verließ eiligen Schrittes das Zimmer.

Wenige Minuten später öffnete sich die Tür wieder und Ava trat ein. Der Doktor hatte mittlerweile versucht, Lucy zu untersuchen, was sich jedoch als ein unmögliches Unterfangen herausstellte, da alle Instrumente, selbst das Stethoskop, augenblicklich vereisten, sobald sie mit Lucys Haut in Berührung kamen. "Ah sehr gut", meinte Doktor Grantham, als das Zimmermädchen an das Bett trat, "Leisten sie dem armen Mädchen etwas Gesellschaft, aber bitte berühren sie sie nicht, wir wissen nicht, welche Auswirkungen diese Krankheit auf andere Menschen hat. Ich würde es vorziehen, heute nicht auch noch eine Erfrierung behandeln zu müssen." Mit diesen Worten erhob er sich, packte das noch immer mit Eis überzogene Stethoskop in seine Arzttasche und verlies mit einem letzten prüfenden Blick auf seine Patientin den Raum.

"Soll ich Ihnen etwas vorlesen, Miss?", fragte Ava und setzte sich auf die Bettkante. Lucy rückte sofort ein Stück ab, aus Angst, sie könnte die Kammerzofe unabsichtlich berühren. "Äm, ja", antwortete sie zögerlich, "Ich habe vor einigen Tagen begonnen, die Schatzinsel zu lesen." Ava verstand und holte das in schwarzes Leder gebundene Buch aus dem Regal neben dem Bett. Eine umgeknickte Seitenecke kennzeichnete, wo Lucy zuletzt aufgehört hatte. Ava schlug den Band an der entsprechenden Stelle auf und begann vorzulesen:

...Ich konnte ihre Füße unsere alte Treppe hinaufspringen, sodass das Haus davon erzittern musste. Gleich darauf aber erschollen neue Ausrufe des Erstaunens; in dem Zimmer des Kapitäns wurde das Fenster krachend aufgestoßen, wobei die Scheibe zerbrach und ein Mann lehnte sich mit dem ganzen Oberkörper hinaus. "Pew", rief er dem blinden Bettler auf der Straße zu, "man ist uns zuvor gekommen, irgendjemand hat die Kiste durchwühlt." "Ist es da?", brüllte Pew. "Das Geld ist da." der Blinde verwünschte das Geld. "Flints Karte meine ich", schrie er...

Unten im Roten Salon, saßen John Screwball und Doktor Grantham währenddessen vor dem Feuer und tranken ihren Earl Grey. "Ist es das, was ich befürchte?", fragte Mr. Screwball und stellte seine Tasse vorsichtig auf dem Tisch vor ihm ab. Auch der Doktor setzte seine auf die Untertasse und nickte betrübt. "Ich fürchte ja."

Der geheime Garten#EtherealAward17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt