Kapitel 7 - Beim Elderbaum gen Osten

230 27 11
                                    

Lucy blieb noch einige Zeit in der Bibliothek und schmökerte durch die Regale. Ihr Onkel hatte eine Reihe sehr seltsamer Bücher, deren Titel teils aus Latein waren. Einer dieser Bände trug den Namen Sanguinem tempore und hatte einen scharlachroten Einband. Neugierig schlug Lucy es auf und lies es beinahe wieder fallen. Ihr Latein reichte nicht aus, um den ganzen Text verstehen zu können, doch das war auch gar nicht nötig - die Bilder reichten vollkommen aus.

Sie zeigten einen Opferungsaltar, auf dem ein ausgeweideter Körper lag. Ein Mann in einer langen schwarzen Kutte stand davor und hielt einen blutigen Opferdolch in seiner rechten Hand. Das Messer schwebte drohend über dem Kopf des Leichnams, genau über der Stirn. Auf der nächsten Seite war ein eigentümliches Symbol abgebildet. Eine liegende Acht, auf der ein Kreuz mit einem langen und einem kürzeren Querbalken stand. Angewidert stellte Lucy den Band wieder zurück in das Regal. Wo zum Teufel hatte ihr Onkel all diese Bücher her? Geister und Satanismus? Damit beschäftigte sich doch kein normaler Mensch! Langsam verstand sie die Abneigung der Bewohner, denn auch ihr begann Mr. Screwball unheimlich zu werden. Obwohl es ihr widersträubte in ihr Zimmer zurückzukehren, da sie noch immer Angst vor dieser Frau hatte, beschloss sie, Ava zu rufen, damit sie sie in den Ostflügel begleitete.

Als sie den Raum betrat, hatte sich das Gewitter wieder weitgehend beruhigt und Lucy hatte nun nicht mehr so viel Angst vor dem Geist. Dennoch sah sie sich zuerst einmal aufmerksam um, bevor sie endgültig davon überzeugt war, dass die Frau ohne Augen nicht mehr hier war. "Kann ich Ihnen noch etwas bringen, Miss?", fragte Ava und Lucy verneinte dankend. "Ich möchte mich noch umziehen, bevor ich zum Abendessen hinuntergehe. Würdest du meinem Onkel ausrichten, dass ich etwas später komme?" "Natürlich, Mylady", antwortete die Kammerzofe und verlies mit einer kleinen Verbeugung den Raum.

Lucy ging zum Fenster hinüber und sah nach draußen. Der Sturm hatte die Blätter von den Bäumen gerissen und sie überall in der Wiese verstreut. Eine Schindel war vom Dach des Pferdestalls gefallen und am Boden in tausend kleine Stücke zersplittert. Einer der Stallburschen eilte über den Hof und verschwand hinter dem Haus. Sie sah Burton, wie er in seinem schwarzen Anzug die Treppe vor der Eingangstür hinabstieg und das Ausmaß des Gewitters begutachtete. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schritt erhobenen Hauptes, ganz so, wie es sich für einen Butler gehörte, zu den Ställen hinüber und besah sich die heruntergefallene Schindel. Lucy musste schmunzeln, den sie war sich sicher, dass er den nächsten Dienstboten, der vorbeikommen würde, zur Schnecke machen und fragen würde, weshalb die Bruchstücke noch immer am Boden verstreut lagen.

Sie seufzte und ging zu ihrem Kleiderschrank hinüber, um sich ein passendes Kleid für das Abendessen heraus zu suchen. Schließlich fand sie ein weinrotes bodenlanges Kleid mit goldenen Verzierungen, die sich am Saum und an den Ärmeln entlang zogen.

Mr. Screwball saß bereits an der langen Tafel, als Lucy eintraf. Burton tischte gerade eine Kürbissuppe und Porridge auf. "Lucy, setz dich doch", forderte sie ihr Onkel auf, "Ich hörte, du hast deinen Nachmittag in der Bibliothek verbracht. Hast du eine interessante Lektüre gefunden?" "Nicht nur eine", dachte sich Lucy, antwortete jedoch mit einem schlichten Nicken. "Nun, ich bin mir sicher, dass man in meiner Bibliothek für jeden Geschmack etwas findet. Das hat jedenfalls immer deine Mutter zu mir gesagt."

Lucy schaute überrascht von ihrem Teller auf. Sie hatte nie gewusst, dass ihre Mutter je auf McAlder war, denn soweit sich mich erinnern konnte, hatte sie sich nie gut mit ihren Bruder verstanden. Dass dieser Satz also von ihr stammte, kam Lucy recht merkwürdig vor. "Ich dachte, Mum war nie hier. Sie sagte immer, zu einem alten Spinner würde sie nicht nach Hause kommen." Nun wirkte ihr Mr. Screwball betrübt. "Ja, das ist wahr. Doch einmal, nur ein einziges Mal, hat sie mich besucht, dass war lange bevor du geboren wurdest. Sie meinte, sie wolle das Anwesen sehen, dass ich gekauft hatte. Zugegeben, sie hat nicht viel von McAlder gesehen. Genau genommen nur das Zimmer, in dem du schläfst, denn sie hatte es zu dieser Zeit auch bewohnt, und die Bibliothek. Ich habe ihr mehrmals Angeboten, sie durch das Haus zu führen, doch sie lehnte es immer ab und verkroch sich in meinen Büchern."

Lucy starrte auf ihren Teller. Sie spürte wie sehr dieser Umstand ihren Onkel Schmerzen bereitete, doch dann fiel ihr plötzlich wieder etwas ein, etwas, dass ihre Mutter vor langer Zeit einmal gesagt hatte. "Es wird früher oder später eine Zeit kommen, Liebes, und ich hoffe, dass es eher später als früher ist, in der ich nicht mehr da sein kann, um die vor den Gefahren dieser Welt zu beschützen. In dieser Zeit musst du etwas finden, dass dir hilft, wenn ich es nicht mehr kann. Beim Elderbaum gen Osten findest du, was dir alle erzählen kann, all die Geschichten, die wahr sind, die es aber leugnen und sie ihren Untergang besiegeln. Ich bitte die mein Schatz, finde es! Finde es und rette dich!" Zu diesem Zeitpunkt dachte Lucy, ihre Mutter hatte eine Art Anfall und schenkte ihren Worten keinen Glauben. Doch nun vermutete sie, dass doch etwas Wahres dahinter steckte, eine Warnung, die sie nicht ernst genommen hatte. Doch sie hatte keine Ahnung, was ihre Mutter mit "beim Elderbaum gen Osten" meinte.

Nach dem Essen verabschiedete sich Lucy von ihrem Onkel und Ava brachte sie zurück in ihr Zimmer. Die Kammerzofe schloss die langen Vorhänge und entzündete mit der Kerze den Kronleuchter, der von der hohen Decke hing. "Ava?", fragte Lucy, bevor das Dienstmädchen den Raum verließ, "Wärst du so freundlich und würdest du mir morgen nach dem Frühstück mein Reitkostum herauslegen? Ich möchte Mr. Poe besuchen." Natürlich, Mylady", antwortete Ava, "Soll ich Ihrem Onkel auch Bescheid geben?" "Ich wäre die dankbar, wenn du nur sagen würdest, dass ich etwas ausreite. Mein Onkel muss nicht alles wissen." Die Kammerzofe nickte und ging aus dem Zimmer.

Lucy lag an diesem Abend noch lange wach. Immer wieder hatte sie das schreckliche Gefühl, dass sie irgendwer beobachten würde und sie betete zu Gott, dass es nicht dieser Geist war. Schließlich fiel sie in einen mehr oder weniger traumlosen Schlaf. Ein Rascheln lies sie aufschrecken. Angestrengt und mit laut pochenden Herzen starrte sie durch die Dunkelheit. Es war nichts zu hören, doch sie glaubte, einen Schatten durch das Zimmer huschen zu sehen. Ein kühler Luftzug wehte durch den Raum und strich über Lucys Arme, sodass sie eine Gänsehaut bekam. "Bitte lass es nicht die Frau sein, bitte lass es nicht die Frau sein", murmelte sie unablässig. Wieder blies ein kalter Lufthauch über ihre Bettdecke und die langen Vorhänge bauschten sich. Verwundert stand Lucy auf.

Die Fenster waren geöffnet und die kühle Nachtluft strömte ins Zimmer. Mit einem Ruck zog sie die tiefblauen Vorhänge zur Seite. Der zunehmende Mond stand hell am Himmel, umgeben von funkelnden Sternen, die von Zeit zu Zeit von Wolken, die sich dunkel vom Nachthimmel abzeichneten, verdeckt wurden. Von draußen hörte die das Rauschen des Meeres und das Rascheln der Blätter im Wind. Erleichtert atmete sie aus. Kein Geist war hier, den Lufthauch, den sie gespürt hatte, kam nur vom Wind. Doch hatte sie vor dem zu Bett gehen nicht alle Fenster geschlossen? Argwöhnisch drehte sie sich um.

Ihr Zimmer lag nun im hellen Mondlicht, das durch die offenen Vorhänge fiel. Niemand war zu sehen. Plötzlich wurde es draußen seltsam still. Die Grillen, die zuvor noch munter ihr Lied gezirpt hatten, waren nun verstummt. Sie hörte keinen Wind mehr, der durch das Blätterdach der Bäume fuhr, ja selbst das Meeresrauschen konnte sie nicht mehr hören. Alles war still. Lucy blickte hinaus und hätte beinahe laut aufgeschrien. Unten, neben den Ställen stand eine Frau in einem weißen Kleid, dass in der Dunkelheit zu leuchten schien und doch war sie irgendwie durchsichtig. Lange schwarze Haare hingen ihr in das Gesicht, doch Lucy wusste auch so, was sie sehen würde. Obwohl die Frau nichts tat, als unten am Eck der Scheune zu stehen, schnürte Lucy ihr Anblick die Kehle zu und sie taumelte geschockt nach hinten. "Das bilde ich mir nur ein, das ist alles ein Traum", sagte sie sich selbst, doch eigentlich hörte sie nicht einmal die Worte, die aus ihrem Mund kamen. Ihr war urplötzlich fürchterlich kalt und sie begann zu zittern. Verängstigt kauerte sie sich am Boden ihres Zimmers zusammen. Sie zog die Beine an, schlang ihre Arme darum und begann vor und zurück zu wippen, während sie immer wieder "Es ist nicht wahr, es ist ein Traum" vor sich hinmurmelte.

Dann fingen plötzlich die Grillen wieder an zu zirpen. Der Wind bauschte wieder die Vorhänge in ihrem Zimmer und Lucy konnte erneut das weit entfernte Rauschen der See hören, wie sich die Wellen an den hohen Klippen von Saint Tudwals brachen. Vorsichtig hob sie den Kopf, stand auf und ging zum Fenster. Die Frau war verschwunden.

Der geheime Garten#EtherealAward17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt