Kapitel 11 - Evelyn Lansbury

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"Johnny, Schwarzer Hund, Dick!", so rief er, "Ihr werdet doch den alten Pew nicht verlassen, Maaten - euren lieben Freund den alten Pew!" In diesem Augenblick wurden in dem Mondschein auf dem Hügel vier oder fünf Reiter sichtbar, die in vollem Galopp den Abhang herunterjagten. Als Pew das Geräusch vernahm, machte er mit einem lauten Aufschrei kehrt und lief auf den Graben zu, in den er kopfüber hineinfiel. Er stand jedoch im nächsten Augenblick wieder auf seinen Beinen und unternahm jetzt völlig verwirrt einen neune Anlauf, der ihn gerade unter die Hufe des nächsten Pferdes brachte. Mit einem entsetzlichen Aufschrei fiel Pew zu Boden, und die vier Hufe trampelten über ihn hinweg. Er wälzte sich noch einmal um, kehrte sein Gesicht ...

"Aufhören! Bitte aufhören!", rief Lucy und bedeckte ihre Ohren mit den Händen. Ava verstummte und ließ langsam das Buch sinken. "Möchten Sie eine andere Geschichte hören?", fragte sie. Lucy atmete tief durch und schüttelte dann mit einem etwas gezwungen wirkenden Lächeln den Kopf. "Nein, danke, aber ich bin müde", antwortete sie, "Ich werde ein wenig schlafen." "Das Dienstmädchen nickte, erhob sich von dem Stuhl neben Lucys Bett und machte einen kurzen Knicks, bevor sie mit dem Buch unter dem Arm das Zimmer verließ.

Im Korridor wartete schon Ruby auf sie. "Wie geht es ihr?", fragte die zweite Kammerzofe und ging neben Ava her. "Nicht besonders gut, sie schläft jetzt", antwortete diese und senkte die Stimme etwas, "Ich denke, sie hat die selben Krankheit wie Mr. Robinson. Im Zimmer ist es eiskalt und auf allem, das sie berührt, bilden sich Eiskristalle." Ruby schlug bestürzt die Hände vor den Mund. "Die arme Mylady!"

In diesem Moment trat eine etwas korpulente Frau in einem einfachen schwarzen Kleid aus einem der Zimmer. Ihre dunkelbraunen Haare waren durchzogen von feinen grauen Strähnen, die auch die strenge Hochsteckfrisur, die sie trug, nicht verstecken konnte. "Ava! Ruby! Haben Sie etwa nichts zu tun?", fragte sie die beiden Bedinsteten streng, "An die Arbeit Mädchen!" "Natürlich, Mrs. Corey", antworteten beide gleichzeitig. Sie beschleunigten ihre Schritte und Ava atmete erleichtert aus, als sie um die nächste Ecke bogen. "Hoffentlich hat sie nicht gehört, was ich gesagt habe", meinte sie und sah nervös über die Schulter, "Sie würde mich des Verbreitens von Gerüchten beschuldigen und dann wäre ich morgen ohne Arbeit." "Keine Sorge, ich denke sie hat nichts mitbekommen", beruhigte Ruby sie.

John Screwball saß vor dem großen Kamin in der Bibliothek und starrte gedankenverloren in die Flammen. Eine Erinnerung drängte sich ihm auf - eine lang vergessene Erinnerung, die es auch besser hätte bleiben sollen. Er wollte sich an diesen Tag nicht erinnern, wollte nicht ihr Gesicht sehen, ihren Schmerz, doch das Bild hatte sich, nun das wieder in sein Bewusstsein getreten war, unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt.

Es war ein ungewöhnlich warmer Herbsttag. Er hatte beschlossen, seinen verlängerten Aufenthalt in London dafür zu nutzen, die schöne Natur etwas zu genießen und einen ausgiebigen Spaziergang im Hyde-Park zu unternehmen. Die großen Ahornbäume, die auf einer Seite den Gehweg säumten, verloren langsam ihre rot und gold gefärbten Blätter. Der kühle Wind brachte das Wasser des Sees zu seiner Linken zum Kräuseln. Er erinnerte sich an seine Jugend, in der er mit seinem Bruder oft am See war, in der Nähe des Anwesens ihrer Eltern. Da scherte er sich noch nicht groß um Umgangsformen und ein angemessenes Verhalten. Er hatte eine Kniebundhose getragen und ein weißes Hemd, das lose eingesteckt war. Er wusste noch, wie sein Kindermädchen immer verzweifelt versucht hatte, ihn in angemessenere Kleidung zu stecken. Jetzt trug er einen dunklen Frack über der hellen Leinenhose und auf seinem Kopf saß ein glänzend schwarzer Zylinder. Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie sehr er in seiner Kindheit diese Kleider verabscheut hatte.

Sein Blick fiel auf eine Frau, die auf einer der Bänke am Ufer des Sees saß. Sie hatte sich über ein Buch gebeugt und schien tief in der Geschichte versunken zu sein. Er blieb stehen und betrachtete sie genauer. Sie hatte die langen schwarzen Haare nur lose nach oben gesteckt, was aber in ihrem Fall untypischerweise nicht unordentlich aussah. Ihr Kleid war von einem dunklen Grün und bestand aus mehreren gerafften Röcken. Noch eine ganze Weile stand er dort und beobachtete einfach nur, wie ihr Mund lautlose Wörter formte.

Plötzlich hielt sie inne und drehte sich in seine Richtung. Ihre eisblauen Augen schienen ihm tief in die Seele zu blicken und ließen ihn unwillkürlich zusammenzucken. Dann besann er sich endlich wieder seiner guten Manieren und trat einige Schritte auf sie zu. "Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe", meinte er und verbeugte sich kurz, "Sie haben etwas äußerst Faszinierendes, wenn sie mir diese Bemerkung erlauben." Sie musterte ihn immer noch prüfend, so, als wisse sie nicht, ob sie um Hilfe schreien oder ihm erwidern sollte. Glücklicherweise entschied sie sich für letzteres. "Lesen Sie auch?", fragte sie, ihre Augen verloren den misstrauischen Ausdruck und sie lächelte freundlich. "Gelegentlich, jedoch bevorzuge ich wissenschaftliche Lektüren." Ein wehmütiger Schatten huschte über ihr Gesicht. "Es war schön Ihrer Bekanntschaft zu machen, jedoch muss ich nun gehen", sagte sie und erhob sich - das Lächeln war wieder verschwunden. "Vielleicht sehen wie uns wieder", meinte er hoffnungsvoll. Diese Frau hatte etwas an sich, dass ihn in ihren Bann zog. "Ja", antwortete sie, doch er konnte nicht umhin, eine gewisse Traurigkeit in ihrer Stimme zu vernehmen, "vielleicht." Sie kehrte ihm den Rücken zu , das Buch unter den Arm geklemmt und machte sich auf den Weg, doch für einen kurzen Moment konnte er ihr Gesicht sehen. Trauer und Schmerz zeichneten sich darauf ab - Schmerz den, da war er sich sicher, nicht er zu verschulden hatte. Diese Frau trug eine fürchterliche Last mit sich und er hatte das ungute Gefühl, dass dies das erste und letzte Mal war, dass er sie sehen würde.

Das Feuer knisterte im Kamin. Er hatte Recht behalten. Zwei Tage nach ihrer Begegnung hatte er in der Zeitung von einem Selbstmord gelesen. Evelyn Lansbury hatte sich am See im Hyde-Park das Leben genommen. Bis heute wusste er nicht mehr von ihr als ihren Namen und ihre Vorliebe für das Lesen von Unterhaltungsliteratur und doch hatte ihr Tod ihn getroffen, wie der einer guten Freundin.






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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 13, 2016 ⏰

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