Kapitel 3 - Das McAlder - Anwesen

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Die Fahrt durch das nun eher kahle Land war bei Weitem nicht so schön wie von Abersoch zur Küste. Saint Tudwals war eine leicht hügelige Insel mit verdorrtem, braunem Gras, trostlosen Bäumen, wenn es überhaupt welche gab, und steilen Klippen, die in die See hinausragten. Die Straßen waren Kieswege mit Schlaglöchern, die man im wilden Zick-Zack umfahren musste, damit die Räder der Kutsche nicht brachen. Einmal kam ihnen der Pferdekarren von Mr. Hyde entgegen, der allem Anschein nach Mühe hatte, sein Pferd unter Kontrolle zu halten und der sie beinahe gerammt hätte, hätte Lucys Onkel nicht so schnell reagiert.

Es dämmerte bereits, als die Kutsche über den gepflasterten Innenhof von Mr. Screwballs Anwesen rollte und vor der mahagonifarbenen Tür zum Stehen kam. McAlder war ein wunderschönes Anwesen mit einem großen Ostflügel und einem Speisesaal, dessen Wände vollkommen aus Glas bestanden und man so durch die Decke den Himmel sehen konnte. Daneben befanden sich die Pferdeställe mit den Kammern der Knechte und dahinter ein unglaublicher Gemüse - und Obstgarten. Das gesamte Anwesen befand sich auf einem riesigen Gelände zu dem auch einige Felder zählten, die von den umliegenden Bauern bestellt wurden. Eine gewundene, von Bäumen gesäumte Straße führte den Hügel hinauf, auf dem der Landsitz thronte. Und obwohl Lucy ihren Onkel schon öfter besucht hatte und auch das Anwesen gut kannte, konnte sie es nur jedes Mal von Neuem bestaunen.

Mr. Screwball stieg vom Kutschbock und öffnete seiner Nichte die Tür. Lucy kletterte hinaus, nahm das Gepäck von ihrem Onkel entgegen und war schon auf halben Weg ins Haus, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahrnahm. Schnell drehte sie sich um - gerade noch rechtzeitig um zusehen, wie ein Mann, der in einen dunklen Umhang gehüllt war, um die Ecke der Pferdeställe zu ihrer Rechten huschte. Vor Schreck lies sie ihre Taschen fallen und rannte zu der Stelle, wo der Fremde verschwunden war. Sie spähte vorsichtig um die Ecke und suchte den kleinen Feldweg ab, der dahinter lag und den Stallburschen als Abkürzung zu den Pferdekoppeln diente. Nirgends war auch nur die leiseste Spur von dem Mann zu sehen. "Er hätte doch sicher Fußabdrücke hinterlassen müssen", dachte Lucy verwirrt und suchte den Boden ab, konnte jedoch nichts finden, "Wahrscheinlich habe ich mir alle nur eingebildet."

Sie ging zurück zur Eingangstür, wo der Butler ihres Onkels, Mr. Burton, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf sie wartete. "Ah, da sind Sie ja, Miss Adams. Ich nehme an, das war Ihr Gepäck?", fragte er und Lucy nickte als Antwort, "Ich war so frei, es für Sie aufzusammeln und einem Dienstboten zu übergeben, der es hinauf in Ihr Zimmer bringen wird." "Oh, danke", erwiderte Lucy etwas verlegen, "Ich wollte nur..." Sie setzte zu einer Erklärung für ihr sonderbares Verhalten an, wurde aber von ihrem Onkel unterbrochen, der Janine einem Stallburschen mit einer dunkelblauen Schirmmütze auf dem Kopf übergeben hatte und sich jetzt an Mr. Burton wandte. "Holen Sie mir doch bitte Mrs. Cort. Meine Nichte hat eine lange Reise hinter sich und möchte sicher noch etwas essen, bevor sie zu Bett geht."

Der Butler verneigte sich kurz, als Zeichen, dass er verstanden hatte und eilte durch den Dienstboteneingang in die Küche um der Köchin den Wunsch des Gutsherren auszurichten. Mr. Screwball begleitete Lucy währenddessen ins Haus, wo schon eine junge Frau in einem langen schwarzen Kleid, einer weißen Schürze und einer dunkelblauen Haube auf dem Kopf, auf die beiden wartete. "Das, Lucy-Liebes, ist Ava, deine persönliche Kammerzofe. Sie wird dir, solange du bei mir wohnst, in allem behilflich sein, bei dem du es wünscht. Als erstes wird sie dich in den Zimmer bringen, ich werde solange in der Bibliothek auf dich warten", sagte Mr. Screwball und übergab der Magd seine Nichte.

Ava führte Lucy eine imposante Treppe hinauf, die in den ersten Stock führte und mit königsblauen Teppichen ausgelegt war. Als die beiden durch den Korridor des Ostflügels gingen, fiel Lucy auf, dass an einigen Ställen an den Wänden andere Gemälde hingen, als vor fünf Jahren. Eines von ihnen zeigte einen wunderschönen Garten mit vielen Blumen und kleinen Fliegenpilzen, die einen Kreis um einen mächtigen alten Baum schlossen. Seine Äste und der Stamm waren von einem dunklen Braun und die kleinen, pfeilspitzenartigen Blätter glänzten silbern. Lucy konnte sich nicht erinnern, in ihrem ganzen Leben je einen solchen Baum gesehen oder gar davon gehört zu haben, doch das Bild hatte etwas fesselndes, das es zu etwas ganz Besonderem machte.

Ihr Zimmer lag gen Westen und war riesig. Die Seite links der Tür wurde ganz von den hohen Fenstern mit den langen, tiefblauen Vorhängen eingenommen, von denen sie aus den Sonnenuntergang sehen konnte. Die Wand gegenüber verstellte ein gigantischer Kleiderkasten. Den Boden zierten samtweiche Teppiche auf denen ihre Koffer abgestellt wurden und an der Wand gegenüber der Tür stand ein Himmelbett mit einem Baldachin, in dem sich die Farben Weiß und Blau ineinander vermischten und wie der Himmel an einem leicht wolkigen Sommertag wirkte. "Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen, Miss", meinte Ava und verließ nach einer kurzen Verbeugung das Zimmer, um Lucy etwas Privatsphäre zu lassen.

Diese begann zuerst, sich an dem Spiegeltisch neben dem Kleiderschrank mit einer Bürste die Haare zu kämmen, die nach der langen Reise völlig zerzaust waren. Danach ersetzte sie ihr Gewand durch ein knielanges grünes Kleid, das in der Mitte von einem schwarzen Samtband gehalten wurde und rief Ava, damit sie sie in die Bibliothek begleitete, wo ihr Onkel auf sie wartete. "Dieses Kleid steht Ihnen ausgezeichnet, Miss", meinte Ava, als sie in Lucys Zimmer trat und schlug zugleich die Hände auf den Mund, "Oh, verzeihen Sie meine Offenheit. Manchmal rede ich, ohne vorher nachzudenken." Lucy sah sie freundlich an und erwiderte: "Keine Sorge, ich nehme das nicht so streng. Außerdem freut sich jeder über ein nett gemeintes Kompliment." Ein dankbares Lächeln huschte über das Gesicht der Kammerzofe, bevor sie wieder ihren neutralen Gesichtsausdruck aufsetzte, der unter den Dienstboten üblich war.

Mr. Screwball war in eines seiner Bücher vertieft, als Lucy in die Bibliothek trat. Sie stand einen Moment etwas unschlüssig da, bevor sie an das Lesepult herantrat. Enzyklopädie britischer Mythen - lautete der Titel, der in goldener Schrift auf dem schwarzen Umschlag pragte. "Lucy, da bist du ja", sagte Mr. Screwball überrascht und schlug das Buch zu, "Mrs. Cort müsste in wenigen Minuten das Essen servieren. Ich schlage vor, wir begeben uns in den Speisesaal." Mit diesen Worten schob er Lucy sanft aber bestimmt. in Richtung Tür, ganz so, als wolle er nicht, dass seine Nichte das Buch zu genau betrachtete.

Nach dem Essen war Lucy noch müder als zuvor und so ging sie bald ins Bett. In dieser Nacht aber, wurde sie von seltsamen Träumen verfolgt, die sie unruhig in ihrem Bett hin und her wälzen ließen. Ein Mann in einem schwarzen Umhang und einer Matrosenkappe stahl die Queen of East und versteckte sie im Pferdestall von McAlder. Ihr Onkel erklärte ihr währenddessen, dass er einem Waisenkind namens Marie einen Brief geschrieben hatte und sie adoptieren wolle. Auch eine unscheinbare Gasse namens Tree hill kam einmal vor, doch Lucy wurde nicht so recht schlau aus diesem ganzen Wirrwarr. Doch als sie am Morgen von dem leisen Vogelgezwitscher der Amseln, die auf einem dicken Ast der mächtigen Eiche vor ihrem Fenster saßen, aufwachte, konnte sie sich ohnehin nur noch wage an ihren Traum erinnern. 


Der geheime Garten#EtherealAward17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt