Klein, dick und dumm (Teil 1)

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Triggerwahnung am Anfang: In dieser Geschichte geht es um Magersucht.

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Kennst du dieses Mädchen? Es ist neun Jahre alt und geht in die vierte Klasse. Es liebt Süßigkeiten. Es mag keinen Sport. Aber es ist glücklich. Vorerst.

An einem Tag im Februar besucht das Mädchen eine Arztpraxis. Es ist eine einfach Vorsorgeuntersuchung, nichts dramatisches. Doch als das Mädchen gewogen wird, ist sie zu schwer. „Leichtes Übergewicht", sagt die Ärztin. „Man sieht im Verlauf, dass sie hier" sie zeigt auf eine Kurve. „deutlich zugenommen hat und nun sehr viel mehr wiegt als andere Kinder in ihrem Alter. Dazu kommt die Größe, Ihre Tochter ist wirklich ziemlich groß, dafür, dass sie noch so jung ist."
Die Mutter des Mädchens nickt ernst. Zuhause wird das Thema noch einmal mit dem Vater beredet. „Es ist wirklich nicht leicht, diese Kurve zu sehen", sagt die Mutter.
Das Mädchen weint. Sie fühlt sie klein und dick und dumm.

Am nächsten Tag in der Schule sitzt sie mit ihren Freundinnen zusammen. Sie sind kleiner, dünner, sportlicher und, wie das Mädchen findet, schlauer.
„Findet ihr ich bin dick?", fragt das Mädchen. Ihre Freundinnen schütteln allesamt den Kopf. Doch das Mädchen glaubt ihnen nicht. Bestimmt wollen sie nur nicht verletzend sein.

Im Frühling macht die Klasse einen Grillabend. Das Mädchen möchte über ein Seil balancieren, das zwischen zwei Bäumen gespannt ist. Da kommt ein Junge zu ihr. Sie mag ihn ziemlich gerne. Man könnte vielleicht sagen das sie in ihn verliebt ist. Er fragt: „Hält das Seil dein Gewicht überhaupt? Du wiegst doch bestimmt über 100 kg!" Er lacht und das Mädchen weiß nicht wie sie reagieren soll. Er hat es vermutlich nur im Spaß gesagt ... vielleicht wollte er ja sogar auf sich aufmerksam machen, weil er sie mag? Doch trotzdem tut es weh. Sie überlegt sich nun doch nicht mehr zu balancieren. Was wenn das Seil sie wirklich nicht aushält?
Da kommt eine Freundin zu ihr und möchte mit ihr ein anderes Spiel spielen. Das Mädchen geht mit. An einem Klettergerüst werfen sie ein Seil über einen Balken und ihre Freundin hält die ein Seite des Seils fest, während sie sich mit den Beinen um die andere Seite klammert.
„Das funktioniert nur, wenn man ein passendes Körpergewicht hat", erklärt sie. Das Mädchen soll es nun auch probieren. Doch anders als bei ihrer Freundin funktioniert es nicht.

Es wird Sommer. Das nun zehn jährige Mädchen geht mit einer Schulfreundin und deren kleiner Schwester ins Schwimmbad. Die Mutter der Freundin macht ein Foto von den dreien und zeigt es ihnen. „Ich sehe dick aus", denkt das Mädchen. Kurze Zeit später erzählt die kleine Schwester der Freundin von einer Studie, die sie im Unterricht behandelt haben. „Wusstet ihr, dass jeder dritte Mensch übergewichtig ist?"
„Nein", erwidert das Mädchen und denkt, wie passend es doch ist. Sie sind zu dritt - und eine von ihnen ist übergewichtig.

Das Mädchen versucht nun etwas gesünder zu essen. Sie geht mit ihrer Mutter in den Supermarkt und kauft „light" Produkte. Doch Süßigkeiten sind schließlich lecker und Sport ist anstrengend. Warum also auf Schönes verzichten und sich anstrengen?

Nach den Sommerferien kommt das Mädchen auf eine neue Schule. Sie lernt neue Kinder kennen, freundet sich mit anderen Mädchen an. Doch wohin sie auch blickt, alle sind dünner als sie.
Dann kommt eine Zeit, in der man das Haus nicht verlassen darf. Keine Bewegung, keine Freunde treffen, nichts. Das Mädchen ist nun in der Pubertät. Sie sieht sich im Spiegel an. „Ihre Tochter hat zugenommen. Sie ist übergewichtig." „Du wiegst doch bestimmt 100 kg!" „Das kann man nur, wenn man ein gutes Körpergewicht hat." „ Jeder dritte Mensch ist übergewichtig."
Die Sätze der anderen spuken in ihrem Kopf umher. Sie findet sich zu dick. Und das muss aufhören.

Joggen wird ihre neue Sportart. Jeden Tag, keine Pause. Die Beine brennen, ihre Lungen schmerzen von der untranierten Atmung. Doch sie darf nicht aufhören, denn sie ist ja zu dick.
Süßigkeiten isst sie nicht mehr und Snaks zwischendurch? Auf keinen Fall!
„Nur drei Malzeiten am Tag", erklärt eine Fitness-Influencerin in einem YouTube Video. „So wenig Kohlenhydrate wie möglich."
„Achtet auf die Ernährung."
„Bloß kein Fast Food!"
„Passt auf bei den Weihnachtsplätzchen!"
Sie isst weniger und weniger. Führt Listen mit dem gegessenen. Macht Workouts und andere Sportarten.
An einem Abend hat sie Hunger. Sie hat kaum etwas gegessen und Sport getrieben. Ihr Magen knurrt. Vor ihr auf dem Tisch stehen Brötchen, Käse und so viel mehr. Sie schlägt zu. 2 Brötchen und Käsewürfel landen in ihrem Magen. Sie fühlt sich aufgeblasen, fett, dumm. Wie konnte sie aus ihrem Schema aus dringen? Sie hatte doch einen Plan! Dünn werden.

Ein Jahr vergeht. Das Mädchen hat ihren nächsten Besuch bei der Ärztin. Sie ist gewachsen „1,61 m", sagt die Ärztin. „Und 49,3 kg. Pass auf, dass du nicht dünner wirst."
Das Mädchen hat 10 kg abgenommen. Sie sieht es, doch sie nimmt es nicht wahr. „Ich bin zu dick", denkt sie.

Bei einem Familienbesuch nach 2 Jahren ohne Besuche erkennen ihre Verwandten sie kaum wieder. „Dünn bist du geworden!", stellt ihre Großtante fest. „Und so hübsch!", sagt eine andere. Das Mädchen lächelt nur. Verwandte müssen  so etwas sagen. 
„Möchtest du keinen Kuchen?", fragt ihre Oma.
„Nein, danke", erwidert das Mädchen.
„Aber du musst doch etwas essen! Wenigstens ein kleines Stück."
Das Mädchen nickt widerwillig. Sie isst den Kuchen, er ist lecker. Viel zu lecker. Am Abend betrachtet sie sich im Spiegel. Durch den Kuchen und das anschließende Abendessen ist ihr Bauch aufgebläht und steht wie eine Kugel von ihrem restlichen Körper ab. Tränen treten in die Augen des Mädchens. Sie ballt ihre Hand zur Faust und schlägt auf ihren Bauch ein. Bum. Bum. Bum. Doch dadurch wird er nicht dünner. Er tut ihr weh von den Schlägen, doch das hat sie schließlich auch verdient. Denn sie hat zu viel gegessen. Jetzt wird sie wieder dick. Erschöpft sinkt sie auf den Boden und vergräbt das Gesicht in den Händen.  Sie ist klein, dick und dumm.

Es geht immer so weiter. Das Mädchen nimmt ab, isst mal zu viel und oft zu wenig. Ihre Zusammenbrüche werden häufiger, ihre lautlosen Tränen in der Nacht immer mehr.
Sie wiegt sich fast jeden Tag. Mal wiegt sie mehr mal weniger. Ihr BMI-Wert liegt kurz vor dem Untergewicht. Doch das reicht ihr nicht. Sie ist kurz davor dünner zu werden als andere. Das war sie nie. Und mal ganz ehrlich, so dünn ist sie ja nun wirklich nicht.

An einem Tag stellt sie sich vor den Spiegel. Ihre Oberschenkel berühren sich nur oben ganz leicht, doch das ist zu viel. Sie macht mehr Workouts, achtet bei Lebensmittel auf den Kilocalorienwert. Sie vergleicht sich unentwegt mit anderen. „Ist das Mädchen da nicht etwas dicker als ich?" „Die Schauspielerin ist aber dünn! Das ist ja nicht gesund ... aber sie ist dünner als ich." „Die hat aber schöne Beine. Meine sind viel breiter."

„Ich fühle mich dick, Mama", erklärt sie ihrer Mutter einige Zeit später
„Das kann ich nicht ernst nehmen, du bist doch so dünn!", erwidert sie. Das Mädchen fühlt sich allein mit ihren Sorgen, doch sie probierten es noch öfter. Fünf, sechs Mal, vielleicht öfter. Ihre Mutter versteht es nicht.

Seit einiger Zeit haben die Schulen wieder geöffnet und das Mädchen geht nun in die 7. Klasse. Ihre Freundinnen essen vor der Schule nichts, wie sie erzählen. Doch das Mädchen schon. Und sie hat morgens auch Hunger. Doch ihre Freundinnen essen morgens nichts ... das muss für sie ja auch möglich sein. Also hört sie auf zu frühstücken. Dann erzählt ihr eine Freundin, dass sie in der Schule immer keinen Hunger hat ihr Pausenbrot zu essen. Das Mädchen hat Hunger. Doch ... ihre Freundin schafft es ja auch ohne Essen. Dann muss sie es ja auch schaffen können.

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Danke an alle, die bis hier hin gelesen haben :) Die Fortsetzung folgt und ich würde mich über Kommentare und konstruktive Kritik freuen. 

Viele Grüße,

Yuna 

Notizbuch der Gefühle - Eine KurzgeschichtensammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt