Mein Körper fühlte sich tonnenschwer an und das war nicht der Frau geschuldet, die sich immer noch an mich klammerte, als wäre ich ihr Rettungsanker. Nein, es waren ihre Worte, unter deren Last ich zu zerbrechen drohte.
„Er ist tot, er ist tot", schluchzte sie in meine Halsbeuge. Ich wollte ihre Worte nicht hören, wollte nur, dass sie mich losließ und ich erklären konnte, dass ich mich wohl in der Hausnummer geirrt hatte. Doch dann trat ein Mann in die Diele und legte seine Arme um die Schultern der Frau. Da wusste ich, dass ich da war, wo ich seien sollte, denn das Blau seiner Augen war dasselbe wie Juris.
„Rose, lass den Jungen einen Moment atmen." „Ich verstehe das nicht", wimmerte ich, doch keine einzige Träne konnte ich aufbringen. „Er müsste doch schon hier sein... Nein, das muss ein Irrtum sein." Der Mann, der mir die Tür geöffnet hatte, stützte nun Juris Mutter und verschwand mit ihr am Ende des Flures. Ihr Wehklagen erschütterte mich bis ins Mark und doch war ich nicht bereit dazu, ihren Schmerz zu teilen, ihren Worten Glauben zu schenken.
„Das Krankenhaus hat angerufen. Sie konnten nichts mehr für ihn tun", sagte Juris Vater, bevor seine Stimme brach. „Nein... nein... es ging ihm gut heute Morgen... er hat gesagt, ich soll herkommen... und dass Sie mich lieben werden und dann sagen Sie mir sowas... nein."
Ich schrie inzwischen so laut, dass Juris Vater kurz zusammenzuckte, bevor er die Hand nach mir ausstreckte. „Ich weiß, dass ist ein Schock für dich. So wie für uns... komm doch bitte mit herein."
Ich versteifte mich und wich zurück, sodass seine Hand ins Leere griff. „Ich fahre jetzt nach Hause und werde auf Juri warten... die sind für Ihre Frau." Ich streckte ihm den Blumenstrauß entgegen, nach dem er nur zögerlich griff. „Oscar, sollen wir dir ein Taxi rufen?", bot er an.
„Ich kenne den Weg... es ist der gleiche, den ich gekommen bin... ja", sagte ich wie in Trance. Dann griff ich nach der Türklinke und kaum, dass ich den perfekt gepflasterten Weg hinter mir gelassen hatte, fing ich an zu rennen.
Ich wollte alles hinter mir lassen. Die polierten Autos, die adretten Buchsbäume, die mit Blumen überladenen Vorgärten, aber vor allen Dingen Juris Tod.
Ich rannte so lange, bis mir die Puste ausging und das Stechen in der Seite unerträglich wurde. Dann holte ich mein Handy raus. Schaute auf das Foto von Juri und mir auf dem Sperrbildschirm. Warum fühlte es sich anders an, es nun zu betrachten? Das waren immer noch wir beide. Es ging ihm gut. Es musste ihm gut gehen.
Ich entsperrte das Handy, wählte seinen Kontakt aus und dann bekam ich ein Freizeichen. „Juri, geh schon ran", sprach ich immer wieder vor mich hin, während meine Füße sich nervös über den Boden bewegten. „Hey", hörte ich seine Stimme am anderen Ende der Leitung und der Stein, den ich unbewusst auf dem Herzen getragen hatte, fiel in einem Rutsch herunter.
Doch dem kurzen Hochgefühl folgte Ernüchterung. Es war lediglich Juris Mailbox, die dort mit mir sprach. „Juri, ruf mich an", sagte ich und schrieb ihm dann eine Nachricht, dass ich bei mir zuhause auf ihn warten würde.
„Juri, bist da?", rief ich in die Wohnung, als zur Tür herein kam. Aber die Wohnung war verwaist. Kein Juri weit und breit. Ich ging ins Schlafzimmer und musste schmunzeln, weil das Bett nicht gemacht war, obwohl es mir Juri am Morgen versprochen hatte.
Ich kuschelte mich in die Laken und dachte an das Gespräch vom Morgen, an die Kabbelei und den daraus resultierenden Sex. Ich vergrub meine Nase in Juris Bettdecke und sog seinen Duft in mich auf. „Juri, wo steckst du nur?", murmelte ich vor mich hin, bevor ich der Müdigkeit gestattete, sich über mich zu legen und mich in den Schlaf abdriften zu lassen.
Das unsägliche Klingeln meines Handy riss mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Die Sonne schien durch die Jalousien und warf Muster auf das Bett. Ich suchte nach dem Smartphone, das ich irgendwo unter meinem Körper begraben hatte. Juri, na endlich. „Juri, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wo steckst du?" Ein Räuspern vom anderen Ende der Leitung. „Oscar, hier ist Henry, Juris Vater. Es tut mir leid, dass wir dich auf diesem Wege kontaktieren müssen, aber wir hatten deine Nummer nicht."
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Wir haben gestern Juris Sachen aus dem Krankenhaus abgeholt-" „Und Juri?", fragte ich mit dem letzten Funken Hoffnung, der in meinem Herzen zurückgeblieben war.
„Oscar, wir haben ihn gesehen. Er ist tot." „N-Nein!", platzte es aus mir heraus und der ganze Schmerz, alles nicht Wahrhabenwollen der letzten Stunden stürzte über mir zusammen.
„Juri", brüllte ich wie ein Wahnsinniger seinen Namen. Tränen rannen über mein Gesicht. Wie eine riesige Welle brach alles über mir zusammen. Ich war nicht mehr Herr meines Körpers. Mein Herz starb in diesem Moment. Eine nicht greifbare Leere, ein Vakuum breitete sich in meinem Brustkorb aus. Ich war mir sicher zu sterben und Juri zu folgen. Das war es, was ich in diesem Moment am meisten wollte. An gebrochenem Herzen sterben.
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Und dann kamst du
Romance„Trauer kommt in Wellen und manchmal sind sie so hoch, dass sie alle anderen mit unter sich begraben. Liebe hingegen ist allgegenwärtig und sie trotzt auch so manchem Sturm mit hohem Seegang." Oscars Welt bricht zusammen, als sein Freund Juri überra...