Als ich am Ufer ankam, stand dort nur noch Jona mit einem Longboard zu seinen Füßen. Henry sah ich bereits ein Stück weit auf dem Wasser auf seinem Board sitzen, das Gesicht in die Sonne gestreckt und die Augen geschlossen.
„Henry ist schon weg?", fragte ich und Jona drehte sich zu mir um. Ich konnte nichts dagegen tun, dass mein Herz jedes Mal, wenn ich ihn sah, zu klopfen begann. Dies sollte es nicht tun, es war falsch, aber ich konnte nichts dagegen tun.
„Ja, sieht so aus." Ich betrachtete seinen nackten Oberkörper auf der Suche nach etwas, das nicht Juri glich, aber vergebens. „Warum guckst du so?", fragte Jona. „Weil du aussiehst wie er... Das im Wald... hast du es deinen Eltern erzählt?"
Er schüttelte den Kopf. „Es wäre gut, wenn das unter uns bliebe... Es tut mir leid."
„Das braucht es nicht... Ich... ich fand es nicht unangenehm, oder so."
Jona brachte das Longboard zu Wasser. „Willst du es probieren? Wir können es zusammen versuchen... Ich stelle mich vorne drauf und du hinten." Ich hatte keine Wahl, denn schon drückte er mir ein Ruder in die Hand.
Ich war nie sportlich gewesen und Juris und meine sportlichen Aktivitäten hatten sich auf Joggen gehen und ausgedehnte Spaziergänge im Park beschränkt.
Ich musste meine volle Konzentration aufbringen, nicht vom Board zu fallen, sondern einfach nur dazustehen, sodass ich Jona nicht beim Paddeln unterstützen konnte.
Er brachte uns bis zur Mitte des Sees, dann drehten wir wieder um. Die Sonne schien so stark vom Himmel, dass ich langsam merkte, wie sich die Haut auf meinem Rücken und im Gesicht rot färbte. „Und was ist jetzt der Sinn?", fragte ich auf halben Weg zurück.
Wir hatten bis dahin geschwiegen, nur Jona hatte ab und zu gefragt, ob ich dies oder jenes am Ufer sah. Gespräche, um die Stille zu durchbrechen. Das peinliche Schweigen zu beenden. Nicht mehr und nicht weniger.
Nun drehte er sich zu mir um und das Board wackelte beunruhigend stark, sodass ich mein Gewicht ausbalancieren musste. „Dieses Paddeln hier. Was hat es für einen Sinn?", fragte ich erneut, doch plötzlich wankte ich unkontrolliert.
„Halte das Gleichgewicht!", sagte Jona noch. „Aahh... Ju... hilf mir." Er wollte nach meiner Hand greifen, doch ich machte in meiner Panik zwei Schritte auf ihn zu und schon landeten wir beide im kühlen Nass.
Als ich die Wasseroberfläche durchbrach, verließ ein Lachen meine Lippen und ich legte, so wie Jona mir gegenüber, die Unterarme auf das Board. Einen Moment lang lächelten wir uns an, bevor unsere Mienen wieder ernst wurden.
Juri war tot und ich hatte Spaß. Das fühlte sich so falsch an.
Ich hatte es nicht mehr geschafft, mich aufs Board zu stellen und so paddelten wir im Sitzen zurück ans Ufer. Im Schatten betrachtete ich meine Schultern und meine Vermutung bewahrheitete sich, denn meine Haut war feuerrot. Aber der Oberkörper des Blonden sah da nicht besser aus.
Als wird das Board gerade zurück ans Haus gestellt hatten, gesellte sich auch Henry wieder zu uns. „Na, hattet ihr Spaß?", fragte er. Eine völlig harmlose Frage. Jona und ich sprachen gleichzeitig, nur sagte er Ja und ich Nein.
Mit gemischten Gefühlen kehrten wir zurück ins Haus. Rose stand mit den Händen auf den Tisch abgestützt da, vor ihr das Handy. Als sie sich zu uns umdrehte, war sie kreidebleich. „Schatz, was ist los?, fragte Henry und bahnte sich sofort einen Weg zu seiner Frau.
„Juri... Juris Körper ist nun eingeäschert."
Dann brach das Grauen über mich herein. „Nein... nein", schluchzte ich, während Rose bitterlich anfing zu weinen.
Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich wieder in meinem Zimmer war. Wie ich dort hingekommen war, wird für immer ein Geheimnis bleiben, denn ich hatte nie gewagt zu fragen.
Dort schlug ich alles kurz und klein. Ich holte die wenigen Bilder von den Wänden und zertrümmerte sie auf dem Boden. Das Buch über Trauerbewältigung flog quer durch den Raum. Meine Kleidung verstreute ich in alle Richtungen. Als ich fertig war, war nichts mehr dort, wo es sein sollte. Juri war nicht mehr hier. Sie hatten seinen Körper einfach ausgelöscht.
Ich saß heulend vor dem Bett auf den Boden. Das Gesicht in den Händen vergraben und ich tat mir selbst am meisten leid. Es klopfte an der Tür und dann wurde die Türklinke nach unten gedrückt, aber ich hatte mein Zimmer von innen verriegelt.
„Oscar, mach doch bitte die Tür auf", hörte ich Henrys Stimme. Ich schüttelte nur für mich selbst den Kopf. „Oscar, geht es dir gut?"
„Geh weg! Das ist alles eure Schuld. Ihr habt ihn mir weggenommen. Ich hasse euch!", brüllte ich, bevor meine Stimme versagte und ein erneuter Heulkrampf meinen Körper zum Beben brachte.
Ich konnte dabei zusehen, wie die Lichtverhältnisse sich im Zimmer veränderten. Die Schatten wanderten über die Tür, vor der ich ab und an Schritte vernehmen konnte. Gegen Abend erklang ein erneutes Klopfen und Rose sagte mir, dass sie mir was zu essen vor die Tür gestellt hatte.
Es ließ mich kalt. Es kümmerte mich nicht. Auch schämte ich mich nicht für meine Worte. Ich hatte jedes Wort so gemeint.
Schließlich stand ich vom Bett auf und stellte die Nachtischlampe wieder auf den Nachttisch und legte die Bettdecke wieder auf das Bett. Ich kuschelte mich in die Decke, obwohl meine Haut durch die Sonne des Tages in Flammen zu stehen schien. Mein Herz allerdings war ein einziger Eisklotz.
Die Trauer, sie kam und ging. Einen Teil der Nacht schlief ich, dann weinte ich wieder, lag nur da und starrte in die Dunkelheit. Ich fragte mich, ob überhaupt irgendjemand in diesem Haus in dieser Nacht schlief, denn ich versuchte nicht einmal, mein Schluchzen im Kissen zu ersticken.
Doch plötzlich hörte ich ein Geräusch an der Tür und sah schemenhaft eine Gestalt ins Zimmer schlüpfen, die dann meine Decke anhob und sich neben mir ins Bett legte.
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Und dann kamst du
Romance„Trauer kommt in Wellen und manchmal sind sie so hoch, dass sie alle anderen mit unter sich begraben. Liebe hingegen ist allgegenwärtig und sie trotzt auch so manchem Sturm mit hohem Seegang." Oscars Welt bricht zusammen, als sein Freund Juri überra...