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Am nächsten Morgen wurde ich durch blonde Haarspitzen, die mich im Gesicht kitzelten, geweckt. Das schönste Aufwachen seit einer gefühlten Ewigkeit.

Ich schaute in die wunderschönen Augen des Blonden und ein Schwarm Schmetterlinge tanzte durch meine Magengrube.

Tausend Fragen spiegelten sich in seinen Augen wider und ich hatte auf alle eine Antwort. Unsere Wege dürften sich nie wieder trennen. Denn täten sie es, würde ich in ein Loch fallen, aus dem ich glaubte, nie wieder emporsteigen zu können.

Rose und Henry hatten zu unserer Überraschung schon gepackt. Nichts wirkte mehr einladend im Wohnbereich. Rose hatte immer dafür gesorgt, dass ich genug aß und sie hatte keine einzige Mahlzeit versäumt, obwohl sie aufgrund ihres eigenen Verlustes allen Grund dazu gehabt hätte.
Aber nun war der Frühstückstisch ungedeckt.

„Wir brechen gleich auf. Ich will vor dem Nachmittag zu Hause sein", sagte sie, als Jona und ich die Treppe hinunterkamen. „Aber... aber ich dachte, wir bleiben bis morgen."

Sie sah zwischen uns beiden hin und her und erst missdeutete ich ihren Blick. Ich vermutete, dass es Abscheu wäre, aber es war Mitleid. Sie wusste, was wir getan hatten und dass wir in dem anderen etwas suchten, was dort nicht zu finden war. Er suchte seinen Seelenfrieden in mir und ich war nur auf der Suche nach Juri.

Wahrscheinlich hatte man unsere Liebesnacht durchs ganze Haus gehört. Deshalb hatte Rose beschlossen, an diesem Morgen überstürzt aufzubrechen.

Doch sie hatte ihre Pläne ohne die eines verzweifelten Mannes gemacht. Denn auch wenn sich dieser Trip dem Ende zuneigte, war ich nicht bereit, mich von dem Mann an meiner Seite zu trennen. Hatte ich ihn doch gerade erst wiedergefunden.

Nachdem sich Rose und Henry von ihrem Sohn verabschiedet hatten, blieb ich noch einen Moment an dessen Auto stehen, bis die beiden außer Hörweite waren.

„Ich würde dich gerne wiedersehen... Das muss hier also nicht das Ende sein", sagte ich zu ihm. „Ich hatte überlegt, wieder zurückzukommen. Jetzt, wo Mom und Dad alleine sind."

Ich schob nervös meine Füße über den Schotter. „Ich... Du könntest bei mir wohnen. Ich habe genug Platz... und ich verspreche dir, dich zu lieben."

Er sah mich mit großen Augen an und mein Herz klopfte wie wild, so groß war meine Angst vor Zurückweisung. „Ich nehme dein Angebot an und ich werde versuchen, dich genau so zu lieben wie-"

„Gut", unterbrach ich ihn, bevor er meine Illusion zerstören konnte. Ich umarmte ihn kurz zur Verabschiedung und stieg dann zu Rose und Henry ins Auto.

Auf der Rückfahrt las ich nicht. Ich hatte das Buch über Trauerbewältigung im Haus zurückgelassen, denn ich hatte meinen eigenen Weg gefunden mit meinem Verlust umzugehen.

Zwei Tage später zog der Blonde bei mir ein. Der Moment, in dem er durch die Tür trat, war surreal. Ein Gefühlschaos ohnegleichen tobte in mir. Ich nahm ihn in die Arme und schloss die Augen. Mein Verstand sagte mir, dass es falsch war, doch mein Herz wollte es so.

Ich wollte nicht mehr leiden und so ließ ich es zu, dass mein Herz über den Verstand siegte. Ich verliebte mich neu, keine zwei Wochen nach Juris Tod. Nicht in Jona, aber in die Vorstellung, dass er Juri war.

Am Anfang war alles noch so einfach. Seinen Namen ersetzte ich, nachdem ich ihn immer erfolgreich umgangen war, durch ein „Schatz". Auch tauschte ich sein Deo und sein Duschgel aus, was er nicht mal bemerkte.

Ich machte ihm zuliebe kleine Zugeständnisse und besuchte einige Sportveranstaltungen mit ihm zusammen. Ich hatte auch wirklich Spaß an diesen Abenden, aber mein Unterbewusstsein gab mir immer zu verstehen, dass dies nicht in das Leben passte, was ich mir mit Juri aufgebaut hatte.

Die schönsten Momente waren immer das Aufwachen am Morgen, wenn der Blonde noch schlief und meine Illusion perfekt war. Alle Traurigkeit wurde bei dessen Anblick einfach hinfort gespült.

Sanft fuhr ich mit einem Finger durch sein Gesicht und beobachte, wie sich die Lippen zu einem Lächeln verzogen. So lange, bis das kleine Grübchen zum Vorschein kam und sich sein Lächeln in meinem Gesicht spiegelte.

Umso schlimmer waren allerdings die Momente, wenn er etwas tat, was total untypisch für Juri war. In denen sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog, mir schwarz vor Augen wurde und ich nach Luft rang, da die Realität – die, dass Juri tot war – einfach zu grausam war.

Mit der Zeit häuften sich diese Momente allerdings und die Unterschiede zwischen den beiden Personen, aus der ich zwanghaft versuchte eine zu machen, wurden immer größer.

Es war egal, wie viele Bücher ich ihm kaufte, die er nicht las, oder seine Kleidung durch welche ersetzte, die Juri gemocht hätte, denn den Kurs, den unsere Beziehung eingeschlagen hatte, war nicht mehr zu stoppen.

Rose und Henry bekamen natürlich schnell Wind von der Sache. Ich weiß nicht, wie oft sie auf mich einredeten, dass ich mir Zeit zum Trauern nehmen sollte, dass ich erst über Juris Tod hinwegkommen müsse, um mich auf etwas Neues einlassen zu können. Sie hielten es für zu früh, aber wir waren beide erwachsen und wollten uns nicht hineinreden lassen.

Aber unsere Beziehung hielt gerade einmal drei Monate. Ich hatte ihm Anziehsachen für den Abend aufs Bett gelegt. Ich wollte unbedingt zu einer Lesung in einem Buchladen um die Ecke, aber als ich ins Schlafzimmer kam, saß er auf dem Bett und zappte im Fernsehprogramm hin und her. „Ich wollte jetzt gerne los."

„Ich habe aber keinen Bock." Sein Verhalten war kindisch und machte mich wirklich wütend.

„Kannst du nicht einmal tun, was ich sage?", motzte ich ihn an. „Ich tue ständig, was du sagst. Ich verbiege mich jeden Tag, um es dir recht zu machen. Ich habe einfach keinen Bock heute, okay?"

„Nein Juri, das ist nicht okay."

Dann brach die Hölle los. „Wie hast du mich genannt? Ging es dir die ganze Zeit darum? Du wolltest immer nur meinen Bruder?" Ich schmiss vor Wut die Jacke, die ich in meiner Hand hielt, aufs Bett.

„Ja verdammt. Ich wollte immer nur deinen Bruder und hätte mich jemand gefragt, dann hätte ich gewollt, dass du stirbst und nicht er."

Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er mir ins Gesicht schlug. Ich stammelte noch irgendetwas von „Es tut mir leid", aber er sammelte seine Sachen zusammen und verließ mich.

Nicht mal seine restlichen privaten Dinge hatte er selbst abgeholt. So starb Juri erneut für mich. Ich fiel in das tiefe Loch, das ich so gefürchtet hatte.

Die Erkenntnis ein paar Wochen später, dass Juri nun schon länger tot war, als ich ihn gekannt hatte, ließ mich kein Licht am Ende des Tunnels sehen.

Und dann kamst du Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt