Manchmal gab es Tage in meinem Leben, an denen ich eine kleine Entscheidung zutiefst bereute und verfluchte. Manchmal gab es auch Tage, da wurde mein Weltbild kurzerhand umgedreht. Und dann gab es manchmal noch Tage, an denen beides geschah.
Der Teil mit dem Bereuen begann bereits am Abend. Ich war so blöd gewesen, mich von meiner Mutter überreden zu lassen bei der diesmonatigen Ratssitzung zuzuschauen. Ich dachte, es wäre vielleicht ganz sinnvoll, mich ein wenig politisch weiterzubilden und so eine Ratssitzung würde schon nicht lange dauern. Falsch gedacht, ich saß hier nämlich schon seit etwa zweieinhalb Stunden.
Der Rat des Königreich Draiocht bestand aus der Königin, die gleichzeitig auch die Vorsitzende des Rates war und zwölf Mitglieder, die alle vier Jahre neu gewählt wurden. Die Mitglieder kannten sich jeweils in unterschiedlichen Gebieten aus, wie zum Beispiel Ökonomie oder Landwirtschaft, sodass der Rat Probleme auf jedem Bereich angehen konnte.
In den Ratssitzungen, die normalerweise jeden Monat einmal stattfanden, wurden meistens die Anliegen der Bürger des Reiches besprochen oder neue Gesetzte erlassen. Bei spontanen Ereignissen oder Problemen konnten auch Notfallsitzungen einberufen werden.
Meine Mutter war selbst Teil des Rates, weshalb sie schon seit längerem versucht hat, mich mitzunehmen, doch ich war nie sonderlich besonders begeistert von dieser Idee gewesen. Alle regulären Sitzungen waren öffentlich, doch außer mir waren sonst nur einige Journalisten anwesend. Warum auch sollte man seine wertvolle Zeit überhaupt vergeuden, wenn man am nächsten Tag einen Bericht über die Sitzung in der Zeitung bekam?
Mein größtes Problem war wahrscheinlich, dass ich nicht einmal die Hälfte dessen verstand, was gerade vorne besprochen wurde. Ich wusste mit einem Blick auf die Liste der Themen nur, dass wir erst einmal bei der Hälfte der Angelegenheiten angekommen waren.
Ich ließ meinen Blick nach draußen aus einem der hohen Fenster schweifen. Dort wurde es bereits langsam dunkel, allmählich verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Neidisch dachte ich an meine Freunde Merlaine und Nin, die sich wahrscheinlich gerade ohne mich amüsierten.
Mühsam versuchte ich ein Gähnen zu unterdrücken und mich wieder auf das Geschehen vorne zu konzentrieren. Wie gerne würde ich jetzt einen Spaziergang an der frischen Luft unter dem Sternenhimmel machen, im Wald zwischen den Bäumen, zusammen mit meinen Freunden.
Wenn wir doch wenigstens schon mit der Organisation für das Frühlingsfest beginnen würden. Das war der einzige Punkt in der heutigen Sitzung, für den ich mich wirklich interessierte. Meine Gedanken schweiften ab zum letzten Fest.
Ich war mit meinen Freunden zum Fest gegangen. Der gesamte Innenhof des Schlosses war mit bunten Lichtern geschmückt gewesen, die spätabends eine zauberhafte Stimmung verbreitet haben. Zauberhafte Musik wurde gespielt und wir hatten gemeinsam das leckere Büffet leergeräumt. Es war ein wundervoller Abend gewesen...
Konzentrier dich!, schimpfte mein schlechtes Gewissen mit mir und ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Aber es ging immer noch um die Probleme einiger Bauern. Ein leises Summen hinter mir lenkte mich erneut ab. Ich drehte mich kurz um, doch da war nichts Auffälliges, alles sah aus wie immer. Außer mir schien auch niemand etwas mitbekommen zu haben.
Wahrscheinlich war das nur ein Insekt oder so.
Ich wandte mich wieder nach vorne und versuchte vergeblich, das immer lauter werdende Summen zu ignorieren. Abermals blickte ich nach hinten, doch da war immer noch nichts. Genervt drehte ich mich wieder nach vorne.
Auf einmal vernahm ich einen goldenen Lichtschimmer aus meinem Augenwinkel. Verwundert schaute ich erneut nach hinten um und vergaß dabei, dass ich mich eigentlich konzentrieren wollte.
Dort sah ich, dass der große verstaubte Spiegel, der schon seit Ewigkeiten dort hinten in der Ecke stand, leuchtete. Überrascht riss ich die Augen auf. Das Licht wurde immer heller und heller, es schien direkt aus dem Spiegel zu kommen und breitete sich immer weiter im Saal aus.
Nun schien auch der Rat die Veränderung mitbekommen zu haben. Sprachlos starrten sie zum Spiegel. Mit einem Mal war eine Silhouette eines Menschen im warmweißen Licht zu sehen. Verwundert beobachtete ich, wie mit einem Mal ein Mädchen aus dem Spiegel katapultiert wurde.
Als wäre die Zeit kurz eingefroren, schwebte sie für einen Augenblick in der Luft, bis sie dann auf allen Vieren auf dem Teppich landete. Entsetzt und desorientiert starrte sie uns an. Im nächsten Moment sank sie zusammen.
Aufgeregte und verwirrte Diskussionen brachen vorne los. Keiner konnte sich das eben Geschehene erklären.
„Wer ist das?"
„Wo kommt sie her?"
„Ist der Spiegel da hinten die ganze Zeit über ein Portal gewesen?
„Vielleicht ist sie eine Spionin!"
Durch meinen Kopf wirbelten haufenweise Gedanken. Auf einen Schlag schien ich wieder hellwach geworden zu sein. Eine Frau vom Rat, die ich nur flüchtig vom Sehen kannte, eilte zu dem fremden Mädchen hinüber. Vorsichtig befühlte sie ihre Stirn und ein leichter goldener Schimmer breitete sich dort aus.
„Sie ist bewusstlos!", erklärte die Heilerin.
Erneut begannen hitzige Diskussionen darüber, was man mit dem Mädchen anstellen sollte. Die einen schienen dafür zu sein, sie zu heilen und hierzubehalten, während die anderen fest davon überzeugt waren, dass sie eine Gefahr war und in den Kerker gehörte.
„Ruhe!", rief die Königin plötzlich und stand auf. „Valeria, kümmere dich soweit es geht um sie. Und Aurora,", sie blickte mich an, „bringe sie danach in eines der Gästezimmer neben der Bibliothek. Bleibe dort, ich vertraue darauf, dass du auf sie aufpasst. Wir werden hier das weitere Vorgehen besprechen"
Ich schob meinen Stuhl nach hinten. Wenn es spannend wurde, musste ich natürlich weg. Andererseits würde ich wahrscheinlich verrückt werden, wenn ich noch eine Minute länger an dieser Sitzung teilnehmen musste.
Ich beschwor auf den Weg zu dem Mädchen eine Trage aus geflochtenem Pflanzen. Sie war zwar ziemlich grob und Madame Elva wäre wahrscheinlich angesichts dem „deiner Gabe unwürdigem Erzeugnis" durchgedreht, doch solange es seine Funktion erfüllte, war ich zufrieden.
Kurz kam mir der Gedanke, was ich machen sollte, falls das Mädchen tatsächlich auf irgendeine Weise eine Bedrohung darstellen sollte. Aber wenn die Königin der Meinung war, sie sei ungefährlich, dann musste ich mir wahrscheinlich keine Sorgen machen.
Währenddessen hatte die Heilerin, Valeria, das Mädchen wohl halbwegs wieder aufgepäppelt, auch wenn es immer noch bewusstlos war. Gemeinsam ließen wir sie auf meine Trage schweben.
Vorsichtig ließ ich das Mädchen etwa einen halben Meter über dem Boden neben mir hergleiten. Zu der Bibliothek war es nicht weit und da ich bereits früher öfters im Schloss gewesen bin, kannte ich mich hier einigermaßen aus.
In einem der Zimmer neben der großen Bibliothek ließ ich sie auf das Bett gleiten. Soweit ich wusste war das normalerweise das Gästezimmer für die Zofen der Gäste, trotzdem war es verhältnismäßig ziemlich groß und prunkvoll eingerichtet.
Ich betrachtete das fremde Mädchen nun etwas genauer. Friedlich lag sie dort auf dem Bett, als wäre sie dort eingeschlafen. Sie war wohl kaum ein Jahr älter als ich, ihr langes braunes Haar verdeckte einen Teil ihres Gesichts. In meinen Augen sah sie ziemlich harmlos aus.
Ich wartete, aber es geschah nichts. Nach einer Weile begann ich, unruhig im Zimmer auf und ab zu tigern. Geduld war einfach nicht meine Stärke, egal wo und unter welchen Umständen. Das Mädchen schlief die ganze Zeit weiter, ohne sich auch nur in kleinster Weise zu rühren. Auch vom Rat kam keiner vorbei, um nach mir zu schauen.
Letztendlich zog ich den Hocker unter dem Schminktisch hervor und ließ meinen Kopf auf den kleinen Tisch sinken. Erst jetzt bemerkte ich, wie müde ich war. Tausende von unterschiedlichen Fragen schwirrten mir durch den Kopf, Fragen über das fremde Mädchen. Dennoch glitt ich allmählich in einen sanften Schlaf.
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Halle der Träume
Fantasia[WIRD AKTUELL ÜBERARBEITET - DIE KAPITEL WERDEN EINZELN WIEDER HOCHGELADEN] Die 14-jährige Silvia Smith führt ein normales Leben. Zumindest, bis sie eines Abends überraschenderweise durch ihren Kleiderschrank in die magische Welt Draiocht gezogen wi...