Erwachen

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Sayaka POV

Völlig reglos stand ich vor ihm, während sich mein Blick in der Ferne verlor. Ich wollte vor Schmerz schreien, konnte es aber nicht. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen. Mein bestehendes Wissen schwoll von der Größe eines Tümpels zu der Größe eines Sees an und habe ich zu Beginn der Erzählung meine Erinnerungen noch im Einklang mit Xiaos Worten zurückgewonnen so änderte sich dies mit dem voranschreiten der Erzählung. Es war, als würde eine Mauer zerbersten. Unzählige weitere Bilder und Erlebnisse schossen aus den Tiefen meines Bewusstseins empor. Ich erinnerte mich an meine Eltern, meine Kindheit, an jenen Morgen, an Xiao, Zhongli, den Tag an dem mich der Abgrund aus dem Waisenhaus mitnehmen ließ und an die Zeit danach, bis hin zur Gegenwart. Freude, Trauer, Erleichterung, Liebe, Verlust, Wut. All diese Gefühle tobten wie ein Sturm in mir. Im selben Moment riss eine Windböe an den nahen Baumkronen und vereinzelte weiße Haarsträhnen wehten in mein Sichtfeld.

Ich kniff die Augen zusammen und ballte meine Hände zu Fäusten. Eine behandschuhte Hand legte sich an meine Wange und wischte meine Tränen beiseite. „Es tut mir leid", sagte Xiao mit leiser Stimme. Ich schlug die Augen wieder auf. „Das muss es nicht. Du hast mir das wiedergegeben, wonach ich mich unbewusst so lange gesehnt habe. Ich konnte mir während all dieser Zeit nie erklären, was es war, aber jetzt...", murmelte ich und machte eine kurze Pause. „Danke." Überwältigt von meinen Gefühlen und ohne darüber nachzudenken, legte ich meine Lippen auf seine und als ich wenige Atemzüge später realisierte, was ich gerade tat, trat ich schnell zurück. Ich lief rot an. „W-wofür...? Was...", stotterte er. Mehr bekam er nicht zustande. „E-es tut mir leid, ich...Aaahrg!" Das Mahl auf meinem Rücken brannte plötzlich wie Feuer und im selben Moment legte sich ein kalter Ausdruck über Xiaos eben noch weiche Gesichtszüge. Ich sah es nicht, wusste aber bereits, dass sich hinter mir ein Portal geöffnet hatte.

Ein ungeduldiges Seufzen durchbrach die Stille und der Abgrundsänger trat durch den dunklen Spalt. Wie ist das möglich, ich fühle, dass er kaum einen Kratzer abbekommen hat! „Habe ich Dir nicht befohlen, den Yaksha zu vernichten?" Meine Fingerknöchel traten weiß hervor, als ich den Griff um das Schwert, welches ich immer noch in der Hand hielt, verstärkte. „Ich dachte, er wäre schon längst Geschichte und wer weiß wie viel Zeit uns diese Schwächlinge von Abgrundmagiern noch verschaffen können." Daher also...er hat seine Marionetten vorgeschickt. „Einerlei. Wir ziehen uns vorerst zu..." Wie es aussieht, bleibt mir wohl doch keine andere Wahl...Jean, Venti, Kaeya...ich danke euch. „Meister...", unterbrach ich ihn mit kühler, tonloser Stimme. Meine freie Hand ergriff die Brosche an meiner Hüfte, öffnete den Verschluss und der Schal, samt dem kleinen Schmuckstück, fiel zu Boden. „...ich muss Euch in Bezug auf zwei Punkte danken und sollte Euch noch an einer, doch nicht ganz unwichtigen, Erinnerung teilhaben lassen..." Eine gespenstische Stille legte sich über die sternenklare Nacht. „...einmal für meine Ausbildung..." Ich hob meine Klinge.

„...und einmal dafür, dass Euch bei dem Ritual, welches mich meiner Erinnerungen berauben sollte und ihr mir das Mahl verliehen habt, ein Fehler unterlaufen ist!" Ich drehte mich um. „Du...du erinnerst dich...aber das..." Ich führte seine Worte fort. „Aber das ist nicht möglich? Stimmt, vermutlich sollte es das Eurer Meinung nach nicht. Wo Ihr es aber erwähnt, lasst es mich kurz erklären. Ihr habt vorhin auf dem Friedhof noch einen weiteren Fehler begangen." Mit Genugtuung bemerkte ich den wachsenden Unmut des Abgrundsängers. „Ihr habt Euren Gegner unterschätzt. Kurz vor Ende der Beschwörung hat Xiao Eure Konzentration mit dem Durchbrechen des Schildes gestört und somit die Manipulation meiner kompletten Erinnerungen verhindert. Das war sozusagen der Fuß in der Tür, der das Blatt gewendet hat." Ich begann, meine Kraft zu fokussieren. „Jetzt zu der vorhin genannten Erinnerung, an der ich Euch teilhaben lassen möchte." Es kam mir vor als wäre es eine Ewigkeit her, doch wie damals beim Windstieg, begann mein Körper in einem fahlen weißen Licht zu leuchten.

„Meine Mutter und mein Vater hatten mir immer und immer wieder gesagt ich solle meine Brosche nicht ablegen. So viel war Euch bekannt, wie ich durch unsere aktuelle Verbindung feststellen kann. Durch den Fehler beim Ritual ist Euch allerdings der Grund weshalb, verborgen geblieben." Ich sah kurz über meine Schulter und erwiderte schweren Herzens Xiaos bernsteinfarbenen Blick. „Diese Brosche, oder besser gesagt der Stein darin, hat einen großen Teil meiner Kraft bei deren Nutzung unterdrückt." Gemächlich setzte ich mich in Bewegung, verringerte den Abstand zwischen mir und meinem ehemaligen Meister. „Ich sollte ihn erst abnehmen, wenn ich gelernt habe, diese Kraft zu kontrollieren." Ich fuhr mit Mittel- und Zeigefinger über die Schneiden meines Schwertes und ein türkis schimmernder Glanz legte sich um das Metall. Diesen Vorgang wiederholte ich sechs weitere Male. Anemo, Hydro, Pyro, Kryo, Geo, Elektro, Dendro... Die Waffe erstrahlte, als hätte sie die Polarlichter über den Gipfeln des Drachengrats absorbiert.

Die eben noch aufrechterhaltene, stolze Fassade des Abgrundsängers begann zu bröckeln, als meine Erinnerungen seinen Geist fluteten. Mit einer wachsenden Mischung aus Furcht und Hysterie lachte er plötzlich auf: „H-halt, warte. Du erinnerst dich, d-das heißt du weißt was passiert, wenn du mich jetzt vernichtest!" Ich blieb ein paar Armlängen entfernt vor ihm stehen. Ich sah zum Himmel hinauf, betrachtete die Sterne und antwortete: „Verletze ich, als Träger des Mahls, meinen Meister, wird derselbe Schaden auf mich zurück projiziert." Ich vollführte eine kurze Handbewegung, als ich Schritte hinter mir vernahm und binnen Sekunden erschien eine Barriere. „Saya, nein! Bestimmt gibt es auch eine andere Lösung!", rief Xiao und hieb mit seiner Faust gegen die Kuppel. „Es würde nichts nützen. Er würde die Beschwörung einfach umformen, dann spielt es keine Rolle von wem der vernichtende Schlag ausgeführt wird. Er würde mich als Druckmittel verwenden, weil er weiß, keiner von Euch würde mich verletzen. Ich kenne seine Gedanken...", sagte ich mit trauriger, aber entschlossener Stimme.

„Verzeih mir." Ohne ein weiteres Wort stieß ich vorwärts und mein Körper verschwand, einzig das Schwert hinterließ einen leuchtenden Schweif in der Schwärze der Nacht. Kurz darauf erschien ich wieder hinter dem Abgrundsänger. Eine hauchdünne weiße Linie zierte die Brustplatte meines Gegenübers und dann, wie aus dem Nichts, wurde die Dunkelheit von einem blendenden Licht erfüllt, gezeichnet mit den Farben aller Elemente. „Sayaka!" Die geschaffene Barriere zerfiel und ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Oberkörper. Gepeinigt sog ich die Luft ein, schlug mir jedoch kurz darauf die Hand vor den Mund, als ich husten musste. Mit einem wehmütigen Lächeln betrachtete ich das Blut auf meiner Handfläche. Das Schwert entglitt meinen Fingern und Finsternis umfing meine Sinne. Ich spürte, wie meine Beine nachgaben und ich zur Seite kippte, dann war Xiao bei mir. Er legte mich sanft zu Boden und ich drehte schwerfällig den Kopf. Panik und Angst trübten seine wunderschönen Augen.

Ein...letztes...mal...
Meine Lider wurden schwer. „Bleib wach, hörst Du!" Kurz bevor sich mein Sichtfeld verdunkelte, sah ich, wie die Zeichnung auf seinem Arm zu glühen begann. Ich mochte es mir nur einbilden, doch ich glaubte, das Schlagen riesiger Schwingen zu hören. Sanfte Windböen strichen über die Wiese und das letzte was ich hörte war ein glockenheller Schrei.

Mit einem Ruck fuhr ich hoch, riss die Augen auf und blinzelte einige Male um meine Sicht zu schärfen. „Autsch...", murmelte ich und griff mir an die Brust. Verwirrt sah ich mich um. Was...ist passiert und wo bin ich...ich dachte ich... Links von mir befand sich eine Holzschiebetür, die auf eine Terrasse führte. Sie stand offen und ließ die ersten schwachen Lichtstrahlen eines friedlichen Morgens herein. Ich...kenne diesen Ort... Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich die Szenerie außerhalb der geöffneten Tür genauer betrachtete. Der Geruch von Kräutern stieg mir in die Nase und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Brust. Um meinen Oberkörper wand sich ein weißer Verband. Seltsame Zeichen waren auf den Stoff geprägt und neben diesen machte ich noch weitere Bandagen, an Armen und Beinen, aus. Behutsam aber dennoch ungeduldig schwang ich meine Beine über die Bettkante. Ich stellte fest, dass ich noch immer die knielange Hose trug, die mir Jean gegeben hatte.

Die hat ihre besten Tage hinter sich.
Auf einem kleinen Schränkchen, gegenüber vom Bett, entdeckte ich meinen Schal und einige neue Klamotten. Alles ordentlich zusammengelegt. Ohne lange zu überlegen, stand ich auf und durchquerte den Raum mit ungelenken Schritten. Ich griff mir die Bluse, zog sie vorsichtig über den Verband und wechselte den Rest meiner Kleidung. Meine Glieder waren steif und protestierten bei jeder Bewegung, dennoch widerstand ich dem Drang, mich einfach wieder aufs Bett zu werfen. Wie lange bin ich wohl schon hier... Ich nahm den Schal in die Hand, löste die Brosche, band mir das Tuch um die Hüfte und befestigte sie anschließend wieder. Mit wild klopfendem Herzen tappte ich anschließend Richtung Balkon und trat hinaus. Dieser befand sich in beachtlicher Höhe und die riesige Baumkrone über mir raschelte leise im Wind. Ich genoss die frische Luft, welche die Benommenheit vertrieb und einen köstlichen Duft mit sich heran trug. Es weckte alte Erinnerungen und ich lachte kurz auf. Ich war als Kind zuletzt hier... Ich legte beide Hände auf das Geländer. Die Sonne kletterte gerade über die in der Ferne zu sehenden Berge und die zuvor schwachen Sonnenstrahlen gewannen an Kraft. „Ich kann es nicht glauben. Ich bin wieder in Liyue."

„Sayaka...?" Ich zuckte erschrocken zusammen, als eine vertraute Stimme hinter mir ertönte. „Falls ich nicht so irgendwie sterben sollte, dann sehr wahrscheinlich an einem Herzinfarkt, wenn Du mich weiterhin so erschreckst." Ich wandte mich um. Xiao starrte mich an, als könne er nicht glauben, dass ich vor ihm stehe. Er stürmte auf mich zu, griff nach meinem Handgelenk und zog mich in eine Umarmung. Völlig unvorbereitet darauf, errötete ich auf Anhieb. „Ich dachte, Du würdest nicht mehr...ich...Baizhu meinte die Chance, dass Du wieder aufwachst sei...", murmelte er. Ich verschaffte mir etwas Freiraum und nahm sein Gesicht in meine Hände. „Jetzt bin ich ja wieder wach oder nicht?" Ich ließ ihn los und lächelte. „Was...!" Er zog mich erneut zu sich und erstickte meinen Ausruf, indem er mir einen Kuss auf die Lippen hauchte. „Jetzt sind wir quitt." Sprachlos starrte ich ihn an.

„Eine Jueyun-Peperoni sieht im Vergleich zu Dir, gerade blass aus." Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Wie ich zuvor, lief er zum Geländer und nachdem ich wieder in die Realität zurückgefunden hatte, gesellte ich mich zu ihm. Eine Weile standen wir einfach nur da und betrachteten die Welt um uns herum, ehe ich die Stille durchbrach. „Wie lange...?" Er drehte seinen Kopf in meine Richtung. „Du hast...ganze 20 Tage in diesem Bett gelegen, ohne die geringsten Anzeichen einer Veränderung deines Zustandes. Es ist einzig und alleine Baizhu's Behandlung zu verdanken, dass Du noch lebst." Ich legte meine rechte Hand an die Brust, als ich an die seltsamen Zeichen dachte, die ich gesehen hatte. „Nicht nur", sagte ich jedoch kurz darauf. Xiao hob fragend eine Augenbraue. „Wärst Du nicht bei mir gewesen, wäre ich jetzt nicht hier." Ich strich einige Haarsträhnen hinter mein Ohr. „Danke."

Einige Tage nach dem Gespräch auf dem Balkon lernte ich Baizhu kennen. Seine sanfte und ruhige Art machte es leicht, ihm ohne Bedenken zu vertrauen und ich war froh, dass ich mich endlich persönlich bei ihm bedanken konnte. Meine Genesung machte, wie er mir sagte, gute Fortschritte und ich erfuhr, dass Xiao während der zwanzig Tage, in denen ich bewusstlos war, mit Jean Kontakt aufgenommen hatte. Er informierte sie über das, was nach der Trennung geschehen war und ich beschloss, so bald wie möglich nach Mondstadt zurückzukehren, um mich ebenfalls bei ihnen allen zu bedanken. Der Aufzug des Gasthauses kam mit einem Ruck zum Stehen und holte mich aus meinen Gedanken. Ich trat hinaus. Das große Mühlrad pflügte durch das Wasser des Sees und schickte kleine Wellen über seine Oberfläche. Gestern Abend habe ich mit Xiao über meine Eltern gesprochen und er erzählte mir, dass die beiden ihre letzte Ruhe auf dem Friedhof von Liyue gefunden hatten. Dies ist heute unser Ziel.

Eilig lief ich zu ihm, denn er wartete bereits. „Guten Morgen", begrüßte ich ihn. „Guten Morgen." Er wirkte verlegen, als ich meine Finger mit seinen verschränkte, entzog sich der Berührung aber nicht. „Schließ Deine Augen." Ich tat wie geheißen und spürte unvermittelt einen Luftzug. Als ich sie wieder öffnete, standen wir auf einem Hügel in der Nähe der Stadt. „Warum hast du uns damals eigentlich nicht direkt nach Mondstadt teleportiert?", fragte ich neugierig. „Weil es dem Körper Energie raubt und ich das Risiko nicht eingehen wollte. Selbiges gilt auch, wenn ich es unabhängig und mit meiner eigenen Kraft mache." Ich nickte verstehend. Es dauerte nicht lange und wir befanden uns vor dem Eingangstor zum Friedhof. Ich atmete tief durch. Orangegolden belaubte Bäume säumten den Weg. Wir folgten diesem ein Stück ehe wir abbogen und wenig später, standen wir vor dem Grab meiner Eltern. Ich kniete nieder, während Xiao in respektvollem Abstand wartete. „Hallo...", sagte ich mit brechender Stimme. „Es tut mir leid, dass ich erst so spät komme..." Tränen liefen über meine Wangen.

„Es ist schön, Euch nach all den Jahren wieder so nahe zu sein. Ich habe Euch vermisst." Ich wusste nicht, wie lange ich letztlich vor dem Grab saß, doch als ich mich schließlich wieder erhob, lächelte ich. „Bis bald." Ich sah zu Xiao, der meinen Blick mit seinen goldenen Augen erwiderte. Er reichte mir seine Hand. „Zeit nach Hause zu gehen." Ich legte meine hinein. „Zeit nach Hause zu gehen."

Das Ende meiner zweiten FF ^^/  Ich hoffe Ihr habt die Lese-Reise genossen. Lasst mich gerne mit einem Kommentar wissen was Ihr von der Geschichte haltet, würde mich mega freuen :D


Am Abgrund zwischen Licht und Finsternis |  Genshin Impact FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt