Kapitel O1 - Ethan

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Kapitel O1 - Ethan 


Ob ich Lust auf all das hier habe? Nein. Ob ich meinen Koffer absichtlich zum dritten Mal an mir vorbeifahren lassen? Ja. Ob mein Fahrer mich ungeduldig schon zum vierten Mal anruft? Vielleicht.

Nachdem mein Koffer noch zweimal auf dem Gepäckband an mir vorbeigefahren ist, atme ich tief durch und ergebe mich schließlich. Ich kann schließlich nicht hier am Flughafen übernachten. Obwohl... Nein, keine Option. Ich brauche dringend eine ausgiebige Dusche und Schlaf in einem gemütlichen Bett. Genau in dieser Reihenfolge.

Langsamer als unbedingt notwendig mache ich mich auf den Weg. Meinen Koffer schiebe ich lustlos vor mir her.

Etliche Ausreden habe ich mir einfallen lassen, um länger in Arizona bleiben zu können – umsonst. Mum hat darauf bestanden, dass ich hierher komme. Die Ranch hat sie verkauft. Das Leben hat mir in Arizona nichts mehr zu bieten, hat sie gesagt. Arizona habe mir nichts zu bieten. Pah! Boston hat mir noch weniger zu bieten, da bin ich mir sicher.

Nachdem ich etlichen Familien und Paaren ausgewichen bin, die sich überschwänglich begrüßen und in die Arme nehmen, mache ich meinen Fahrer endlich ausfindig. Es ist nicht schwer, obwohl er kein Schild mit meinem Namen Ethan Hill hochhält. Er ist der einzige Mann im Gebäude, der in einem schwarzen Anzug dasteht, eine Sonnenbrille trägt – man, wir sind in einem Gebäude. Hier scheint keine Sonne – und mit gerunzelter Stirn wild auf sein Handy tippt.

»Bin da«, sage ich kurz und knapp, als ich vor ihm zum Stehen komme.

Er schaut auf, steckt das Handy in seine Hosentasche und nimmt Haltung an. »Willkommen in Boston, Mr. Hill. Ich bin Greg, ihr Fahrer.« So förmlich, ich könnte jetzt schon kotzen. »Soll ich Ihnen ihre Tasche und den Koffer abnehmen?«

»Danke, geht schon.« Ich schultere meine Tasche nochmal zurecht. »Gehen Sie vor, ich folge.« Er nickt, dreht sich um und geht eilig voran.

Während ich ihm folge, gehe ich ich alle Szenarien durch. Wie es sein wird, wieder hier zu sein. Wie ich hier zurechtkommen soll. Wie ich meinem Dad gegenübertreten soll.

Ich habe ihn seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Ab und zu ein Telefonat, aber besucht habe ich ihn nie. Genauso wenig wie er Mum und mich besucht hat. Wozu auch? Es gibt nichts mehr zu sagen. Dementsprechend kurz und nichtssagend waren unsere Telefonate. Wie geht's? Wie geht's Mum? Was macht das Geschäft? Mehr war nicht. Auch jetzt habe ich ihm nichts zu sagen. Ich werde ihm niemals etwas zu sagen haben.

Es ist November in Boston und die Kälte erschlägt mich fast, als ich nach draußen trete. Noch etwas von den Dingen, die ich nicht vermisst habe.

Greg drückt einen Knopf auf seiner Fernbedienung und der Kofferraum des schwarzen schicken Audis öffnet sich. Natürlich hat er direkt vor dem Ausgang geparkt, was mit Sicherheit ein Vermögen kostet. Pro Minute. »Kommen Sie.« Er winkt mich ungeduldig heran und schnappt sich meinen Koffer, um ihn zu verstauen. Das gleiche macht er mit meiner Tasche.

»Ich bin jung und kräftig, wissen Sie. Das hätte ich auch alleine geschafft.« Ohne arrogant zu klingen, aber die Arbeit auf der Ranch hat einen großen Teil dazu beigetragen. Es ist anstrengender als man denkt. Da können sich die ganzen Möchtegern-Bodybuilder im Fitnessstudio noch eine Scheibe von abschneiden.

»Natürlich, das weiß ich. Aber das ist mein Job, Mr. Hill.« Er nickt mir zu, schließt die Klappe und macht sich auf den Weg um mir die Tür zu öffnen.

»Unterstehen Sie sich«, warne ich und hebe meinen Finger in seine Richtung. »Jetzt machen Sie keinen vollkommenen Schlappschwanz aus mir.« Ich kann etwas auf seinem Gesicht erkennen, das leichte Zucken um seine Mundwinkel. Aber es ist viel zu schnell wieder weg. Die Professionalität in Person.

Der Verkehr in Boston ist eine Katastrophe. Rush Hour. Klasse. Ich ziehe mein Handy aus meiner Hosentasche und stelle den Flugmodus aus. Sofort werden mir vier Nachrichten angezeigt, alle von Mum.

Mum:Du hast deine Wasserflasche vergessen, Liebling.

Mum: Vanessa hat nach dir gefragt. Hast du ihr nichts erzählt??

Mum: Eine gewisse Christine hat auch nach dir gefragt ... So habe ich dich nicht erzogen, mein Sohn!

Mum: Bist du sicher gelandet?Geht es dir gut? Melde dich!!

Ich muss schmunzeln und antworte ihr, dass ich sicher gelandet bin und es mir gut geht. Die anderen Nachrichten lasse ich bewusst unbeantwortet, was soll ich schon schreiben. Ich bin kein Kind von Traurigkeit, das weiß Mum auch. Ich kann garnicht aufzählen, wie oft sie in ihrer Schürze mit diesem Kochlöffel vor meiner Nase herumgefuchtelt und mir Predigten gehalten hat. Dass damit endlich Schluss sein soll und sie es nicht länger duldet, andauernd fremde Mädchen im Haus zu haben. Tja, was soll ich sagen. Um das zu bekommen was man möchte, muss man die Mädchen nicht zwingend mit ins Hause nehmen. Es geht auch in einer Bar, unter einer Tribüne, am See. Oder wie bei Vanessa – im Stall bei den Rindern, als Mum mit ihrer Freundin in der Stadt unterwegs war.

»Haben Sie Hunger, Mr. Hill? Soll ich anhalten und Ihnen ein Sandwich besorgen?« Greg – er trägt noch immer diese Sonnenbrille – schaut mich durch den Rückspiegel an. »Die Fahrt bis zur Firma wird sich wohl noch etwas hinziehen.«

»Bitte, nennen Sie mich einfach Ethan. Und nein, danke. Ich habe im Flugzeug gegessen.« An Schlaf war ja nicht zu denken. Ich habe das Geschrei von diesem kleinen Jungen noch immer in den Ohren. Gott sei Dank scheinen Stewardessen auf Cowboys aus Arizona zu stehen, denn sie hat mir ohne mit der Wimper zu zucken alles besorgt, was ich bestellt habe. Ich bin sicher, dass auf einer Serviette ihre Handynummer stand. Ich runzle die Stirn und ziehe besagte Serviette aus meiner Gesäßtasche. Tatsächlich, eine Handynummer. Susanne. Interessant.

»Wie Sie meinen... Ethan.«

»Moment mal.« Ich stopfe die Serviette zurück und beuge mich zu Greg vor. »Sagten Sie gerade Firma? Da bringen Sie mich hin?«

Er nickt. »Ihr Vater möchte Sie sehen, bevor sie zu Mr. Thompson gebracht werden. Er hat sich extra den Nachmittag freigeschaufelt und alle Termine abgesagt.« Wow, so viel Aufwand hat mein werter Herr Vater betrieben? Beeindruckend.Ich lasse mich zurück in meinen Sitz fallen und schließe erschöpft die Augen. Scheiße. 

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