Konkurrenzkampf dritter Art

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Es gibt nicht viele Vorteile daran, tot zu sein. Aber die Fähigkeit, durch Wände zu gehen, gehört definitiv dazu. Allerdings lässt der Ausblick für gewöhnlich zu wünschen übrig, denn für den Moment, in dem ich diese schmale Barriere zwischen zwei Zimmern überwinde, umgibt mich schwärzeste Schwärze.

Als ich auf der anderen Seite wieder herauskomme, ist es immerhin nur noch bläuliche, nächtliche Schwärze. Die Nacht ist schließlich der Tageszeitpunkt, zu dem ich aufblühe, ganz, wie es sich für einen Poltergeist gehört.

Ich verschaffe mir einen Überblick über das Zimmer, das ich gerade betreten habe. Es ist beeindruckend unspektakulär, wie eins zu eins aus einem Katalog für Inneneinrichtung übernommen. Wenn ich mich besser auskennen würde, könnte ich wahrscheinlich sogar sagen, von welchem Möbelhaus.

Für den Moment aber freue ich mich einfach über das Bücherregal, das eine gesamte Seite des Raumes einnimmt. Bücherregale sind meine leichteste Übung. Ich schlendere hin und ziehe dann ein Buch heraus, das besonders prätentiös aussieht. Nietzsche. Ich wette, wer auch immer hier wohnt, hat es nie gelesen. Stattdessen steht es im Schrank, um Besucher zu beeindrucken.

Ich lege einen Finger auf den Buchrücken und ziehe es langsam aus dem Regal. Dann lasse ich es auf den Boden fallen.

Es trifft mit einem zufriedenstellenden Wumms auf. Ich lächele und lausche. Hat das gereicht, um die Bewohner aufzuwecken? Nein?

In dem Fall muss ich wohl schwerere Geschütze auffahren. Das nächste Buch, das auf dem Boden aufkommt, ist eine Originalausgabe von Grimms Märchen. Jemand hat eine Widmung auf die erste Seite geschrieben: Für Jeremy, meinen Märchenprinzen. Ist ja widerlich. Aber so weiß ich immerhin, wie mein heutiges Opfer heißt.

Blöderweise wäre das Buch fast auf meinem Fuß gelandet und das wäre auch für mich unerfreulich gewesen. Glücklicherweise hatte ich mich gerade nicht darauf fokussiert, meinen Fuß in die Welt der Lebenden zu verschleppen, und so fährt das Buch einfach durch mich hindurch und trifft mit einem tiefen Schlag auf dem Boden auf. Besser.

Jetzt höre ich Schritte von oben und ein diabolisches Grinsen breitet sich über mein Gesicht aus. Showtime.

Ich trete einen Schritt zurück, dann wird die Tür zu dem Katalog-Wohnzimmer aufgestoßen und das Deckenlicht angeschaltet.

Ich gebe dem verschlafenen Mittvierziger, der im Türrahmen steht, etwa fünf Sekunden Zeit, die zwei herabgefallenen Bücher wahrzunehmen. Dass ich direkt daneben stehe, bemerkt Jeremy natürlich nicht, er sieht einfach durch mich hindurch. Was vielleicht auch gut ist, denn mit dem zierlichen Körperbau, in Jeans und Kapuzenpulli, biete ich kein sehr gruseliges Bild.

Ich richte einen Finger auf die Glühbirne an der Decke und lasse sie flackern. Ein zu ruhiges Licht würde doch der Atmosphäre nicht gerecht werden.

Jeremy erstarrt, während ich gleichzeitig beginne, mehr Bücher aus dem Regal zu stoßen. Drei, vier, die Schläge auf dem Boden dröhnen immer lauter in meinen und seinen Ohren.

Die Lampe geht wieder an. Um einen Augenblick später in tausend Scherben zu zerbersten, die als winzige Geschosse durch den Raum schießen. Eines davon trifft Jeremy an der Wange, ein einzelner Tropfen Blut tritt aus und läuft über seine Haut.

Der Mann weicht Schritt für Schritt zurück. Ich nähere mich ihm. Jetzt kann ich die Angst in seinen Zügen sehen, trotz der Dunkelheit. Er weiß, dass ich da bin.

Im Flur hängen Gemälde an den Wänden, hässliche Dinger mit sonnenuntergangsüberzogenen Landschaften. Jedes, an dem Jeremy vorbeigeht, verrutscht in seiner Aufhängung und droht, zu Boden zu stürzen.

In MemoriamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt