Noahs Hände zittern, aber er zögert nicht, als er die Stecknadeln von der Karte löst und sie sich raschelnd zu seinen Füßen zusammenrollt.
Nein. Das darf er nicht. Ich bin doch direkt hier!
In diesem Moment bleibt die Zeit stehen, und zwar ganz buchstäblich. Noah erstarrt an Ort und Stelle. Absolute Stille tritt ein, weil die Geräusche, die ein Haus nachts von sich gibt, abrupt verstummen. Langsam drehe ich mich herum.
Leif hat den Raum betreten. Er geht lässig, die Hände in den Taschen seiner Cordhose vergraben und seine Schritte ein kleines bisschen schlurfend, als wäre er gerade aus dem Bett geworfen worden. Er blickt wieder freundlich, seine kommandierende Aura von vor wenigen Minuten ist verschwunden.
Das heißt nicht, dass ich sie vergessen habe. Ich versuche, mich zwischen Leif und Noah zu schieben. Letzterer betrachtet noch die Karte in seinen Händen.
„Was willst du von mir?"
Ein Lächeln breitet sich über Leifs Gesicht aus, freundlich und unauffällig. Ein Hauch Mitleid schwingt darin mit. Ich weiche einen Schritt zurück. „Etwas, das ganz leicht ist, Miriam. Ich biete dir einen Ausweg aus all den Ärgernissen."
„Ärgernisse?", piepse ich, denn ich kann keinen weiteren Schritt gehen. Hinter mir ist die unsichtbare Wand, die mich davon abhält, rücklings in Noah hineinzulaufen, vor mir nähert sich Leif.
„All den Schmerz, du kannst ihn hinter dir lassen. Du weißt, was deine sogenannte Freundin getan hat, deswegen bist du mir doch vorhin beinahe in die Arme gelaufen."
Ich schließe die Augen. Natürlich weiß er Bescheid. Ich habe ihm von Anfang an alles erzählt. Aber schließlich ist er ja hier, um mir zu helfen. Oder?
„Und du weißt, was du verloren hast, du spürst es jetzt umso deutlicher. Versteck dich nicht länger davor."
Leif nimmt mich sanft bei der Schulter, und dreht mich zu Noah herum. Im selben Moment läuft die Zeit weiter und durch Leifs Griff bin ich gezwungen, das anzusehen, was ich sonst vielleicht vor mir selbst versteckt hätte.
Noah rollt die Karte zusammen. Das Papier raschelt leise, als er ein Band darum schlingt, damit es nicht einfach wieder aufgehen kann.
Die seltsame Materie, die mir meinen Poltergeistkörper verleiht, scheint auseinanderzustreben und sich nie wieder zusammenfinden zu wollen.
„Ich bin doch hier", wispere ich und jetzt füllen sich meine Augen doch wieder mit Tränen. „Du darfst das nicht, du darfst das nicht." Meinen nächsten Satz brülle ich hinaus. „Ich bin direkt hier!"
Ich weiß, dass Noah mich nicht hören kann, dass mich niemand derjenigen hören kann, die mir in diesem Haus etwas bedeuten. Ein trockenes Schluchzen bricht aus meiner Kehle hervor und meine Sicht verschwimmt.
„Bleib bei mir, bitte bleib bei mir", flehe ich, aber ich erreiche Noah nicht, meine Schreie und mein Betteln verhallt ungehört in der undurchdringlichen Grenze, die uns umgibt.
Leif lässt mich weinen. Sogar sein Griff an meiner Schulter lockert sich, denn er merkt, dass ich mich nicht länger dagegen auflehne. Wie sollte ich auch? Es ist vorbei, vorbei, vorbei.
„Diese Schmerzen", sagt Leif schließlich leise, als Noah die Karte ganz oben auf seinen Schrank räumt, dorthin, wo nicht einmal er mit einem Stuhl noch hinreichen kann. Früher haben wir Scherze darüber gemacht, dass ich ihn für alles brauche, was höher als zwei Meter liegt, weil meine Beine leider nicht lang genug für meine Ambitionen gewachsen sind.
„Ich kann sie dir nehmen", flüstert Leif. „Es würde alles leichter werden."
„Das meintest du, als du mich gefragt hast, ob ich alles rückgängig machen würde, oder?", wispere ich. Mein Inneres fühlt sich noch immer an, als wäre ich in zwei Hälften gerissen worden.
„Du musstest das alles wissen", erwidert Leif. „Du musstest es ab dem Moment wissen, in dem du das Boot auf dem Bild in Jeremys Haus gesehen hast. Ab dem Moment, in dem du Sina mit Freunden in dem Geisterschloss überrascht hast."
„Sina?" Meine Stimme ist tonlos.
„Sie hat dich gesucht. Von Anfang an. Das Medium war nicht ihre erste Anlaufstelle."
Als ich nicht antworte, fährt Leif fort. „Mit deinen Fragen hast du mich zu dir gezogen. Ich habe dich in die Situationen gebracht, die du brauchtest, um die Antworten zu finden."
Seine Stimme ist weich, auf die gleiche Art und Weise, wie man zu einem unglücklichen Kind spricht. „Jetzt kann ich sie dir wieder nehmen, mit allem Schmerz, den sie dir gebracht haben. Gib einfach nach."
Ich schließe die Augen. Diesem Schmerz kann ich nicht entkommen. Es ist keiner, den ich mit Wut bekämpfen kann oder indem ich Gegenstände durch Räume fliegen lasse. Er würde mich mein gesamtes Geisterdasein lang begleiten.
Also gebe ich nach.
Prompt spüre ich, wie etwas von mir ablässt. Ein Gewicht verschwindet von meinen Schultern und ich habe das Gefühl, vom Boden abzuheben. Die Klauen, die sich bis gerade eben noch in mein Herz geschlagen haben, lösen sich und erlauben es mir, etwas freier zu atmen.
Halb nehme ich wahr, dass Noah an Leif und mir vorbeigeht und sich zurück in sein Bett legt, klein unter dem Volumen der Bettdecke.
Ich werde einfach trotzdem hierbleiben, beschließe ich. Genau hier, bei Noah, da, wo ich eigentlich schon immer hingehört habe. Ich werde mir einen Platz suchen, wo ich bleiben kann, und dann werde ich auf ihn aufpassen.
Es ist ein friedliches Bild.
Das scheint mir eine Zukunft zu sein, mit der ich leben kann. Eine gute Zukunft, die das erste Mal wieder einladend aussieht, seit Noah begonnen hat, die Karte von der Wand zu nehmen.
Dann allerdings, noch während ich mich dankbar der Erleichterung hingebe, drängt sich ein ungebetener Gedanke in meinen Kopf. Was, wenn jemand kommt, der mir meinen Lebenden streitig machen will?
Schon allein bei dem Gedanken kocht die Wut wieder in mir hoch. Das würde ich nicht zulassen, erkenne ich. Niemand dürfte hier sein, es wäre mein Haus und wenn jemand die Frechheit haben sollte ... nun, dann würde ich einen anderen Ort finden, um mich zu verstecken. Einen mit einer scharfen Schneide vielleicht und wenn der Eindringling mir oder Noah zu nah kommen würde, dann würde ich auf ihn zurasen und -
Noahs Zimmertür öffnet sich.
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In Memoriam
ParanormalMiriam ist tot. Eigentlich hat sie sich mit diesem Schicksal abgefunden, denn als Poltergeist ist sie zweifellos talentiert. Wäre da nicht die Legende von einem Taxi, das einen nicht dorthin bringt, wohin man möchte, sondern dahin, wohin man muss...